telegraph 3/99
Schwerpunkt
ÜBER LEUTZSCH LACHT DIE SONNE ÜBER LOK DIE GANZE WELT
Ray Schneider
"Alles zum Wohle des Volkes" hat unter
DDR-sozialistischen Bedingungen natürlich
auch bedeutet, dass der Sport ganz im Dienste des politischen Kurses zu funktionieren hatte.
Der Leistungssport diente als Propagandamittel, das der Bevölkerung zeigen sollte, wie
effizient die realsozialistische Maschinerie
arbeitet, aber vor allem, wie überlegen das System
des Ostens gegenüber dem des
"Klassenfeindes" in Wirklichkeit war.
Während jeder Bezirk der DDR die
Talente der Region in sportlichen Elitezentren
ermittelte, zu "Leistungskadern" aufbaute und
diese den Sportfunktionären für die
Umsetzung ihrer Pläne jederzeit zur Verfügung
stellte, wurde der Massensport über die
Betriebssportgemeinschaften (BSGs) oder andere gesellschaftliche Organisationen
organisiert. Sportliche Erfolge wurden durch
"Delegierungen" (Zwangs-Beförderungen)
von Leistungsträgern künstlich erzeugt, und
dass vom Kinderbereich über die Kinder und Jugendsportschulen bis hin zu den Profis.
Der gesamte sportliche Wettkampfbetrieb wurde von obersten Stellen manipuliert und
vereinnahmt. Sportliche Karrieren waren somit immer mit Unterwerfung und somit
Zusammenarbeit mit den politischen Organen verbunden. Die Spitzensportklubs der
DDR waren natürlich die der Polizei und der
Armee, und sportliche Erfolge ( die mit militärischen Auszeichnungen entlohnt wurden)
verbanden sich jeweils mit Erhöhung des
Dienstgrades.
Mit Honecker verflachte in den
Siebzigern Ulbrichts Ausrichtung der DDR auf eine gleichgeschaltete sozialistische
Volksgemeinschaft, gewannen bürgerliche und
individuelle Freiheiten westlicher Prägung neue
Bedeutung. Der Lebensstandard der Leute stieg, Familie und Freizeitgestaltung machten
wieder den Sinn des Lebens aus. Wer sich in die kleinbürgerlichen Verhältnisse einpasste,
fand seine politikfreien Nischen und wurde mit pseudowestlichen "Errungenschaften
des Sozialismus" belohnt. Der Leistungs- und Wettkampfsport diente immer mehr
als Propagandainstrument.
Im Fußball gab es die Oberliga, in der die
Klubs der Leistungszentren der DDR-Bezirke um die Teilnahme an internationalen
Vergleichen spielten. Nur ganz wenigen BSGen (ausschließlich die von Großbetrieben wie
der WISMUT, der Autoindustrie oder der Chemiekomplexe im Süden) gelang es, in
der Liga der Klubs mitzuspielen, meist nur um den Klassenerhalt, denn die "guten" Spieler
wurden sofort zu den Spitzenklubs delegiert. Die Kaderschmiede und die Nachschubbasis
der Oberliga bildeten die fünf DDR Ligen der zweithöchsten Spielklasse, die untereinander jeweils die zwei Aufsteiger in die
Oberliga ermittelten.
In der Bevölkerung galten die BSGen
(meist alte Arbeiter- oder Traditionsvereine) als underdogs und Antipoden der
SED-gesteuerten Fußballklubs. Durch diese
hineininterpretierte "politische Komponente"
gestalteten sich Vergleiche zwischen BSGen und Polizei-, Stasi- oder Armeeklubs oft zu
politischen Veranstaltungen, bei denen unter dem Deckmantel des Sports und aus der
sicheren Masse heraus politische
Meinungsäußerungen möglich waren, ein symbolischer
Machtkampf zwischen "unten" und "oben"
stattfand.
Folgerichtig sammelte sich um solche
Vereine dann auch ein spezielles Protestpotential,
bei dem das Interesse am Verein weit über den sportlichen Aspekt hinausging. Von
besonderer Bedeutung waren dabei die Vereine Union Berlin und Chemie Leipzig, die sich
als einzige höherklassige Teams der DDR in
der eigenen Stadt mit Konkurrenzklubs wie dem BFC und dem 1. Lokomotive Leipzig
konfrontiert sahen. Anhänger aus der ganzen Republik sympathisierten mit beiden
Vereinen. Bei Auswärtsspielen begleiteten
hunderte bis tausende Jugendliche die Teams, was folgerichtig oder gezielt zu
Konfrontationen mit den staatlichen Organen und
spektakulären Skandalen führte. Die Medien
verschwiegen diese Vorkommnisse bewußt und
sorgten somit dafür, daß es zum Kult oder zum
Ausdruck der eigenen Oppositionshaltung wurde, sich zum Anhänger von Union oder
Chemie zu bekennen.
"Schlagt dem Erich Mielke die
Schädeldecke ein!
Blut soll fließen, Blut soll fließen.
Hoch lebe die Chemie-Republik!"
Leipzig, mit 600 000 Einwohnern die
zweitgrößte Stadt der DDR, hatte eine ganz
spezielle Fußballtradition. In den 50ern und
60ern hatte man mehrmals versucht, den beliebten Arbeiterverein aus Leutzsch zugunsten
eines künstlich geschaffenen Elitevereins (das
Leistungszentrum des Bezirkes 1. FC Lokomotive Leipzig) aufzulösen. Die Trotzreaktion
von Sportlern und Fußballanhängern führte
dazu, dass der Todgeglaubte wie Phönix aus
der Asche aufstieg und sowohl vor, wie hinter dem Spielfeldrand den Polit- und
Sportfunktionären peinliche Auftritte lieferte.
Die Zugehörigkeit der Anhänger zum
jeweiligen Verein machte sich aber auch am Wohnort und der Beeinflussung durch
Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld fest. In
den Metallbetrieben des Westens hatten Arbeiter ganze "Chemiealtäre" aus
Mannschaftsfotos der Meistermannschaft und alten Fahnen
über ihren Maschinen errichtet. Die Mehrzahl
der Chemieanhänger kam aus den Arbeitervierteln des Nordens und Westens, die von
Lok aus dem Osten und Süden. Schaffte Chemie mal wieder den Aufstieg in die Oberliga,
schlugen ihr die Sympathien der Mehrzahl der Leipziger entgegen, übertraf man die
Zuschauerzahlen des Ortsrivalen um das Mehrfache.
Die traumatischen Erfahrungen der
Leipziger Jugendlichen aus den Beatkrawallen 1965
auf dem Leuschner Platz (Polizei prügelte auf
tausende Jugendliche ein und deportierte sie in die Braunkohle zur Zwangsarbeit), das
Verbot der Leipziger Band Renft Mitte der
Siebziger und die Krawalle mit der Polizei bei der
1000-Jahrfeier 1974 in Altenburg hatten in und um Leipzig eine Jugendszene hervorgebracht,
die sich von der staatlichen Jugendpolitik nichts mehr vormachen ließ und
Konfrontationen mit der Staatsgewalt nicht auswich. Bei
Auswärtsfahrten der Chemieanhänger in den
Siebzigern kam es ständig zu Krawallen. In Eisleben und Wolfen kam es zu
Massenschlägereien mit Polizeieinheiten, bei Fahrten in
Regionen des Harz zu Einsätzen der Grenztruppen
der DDR. Dabei handelte es sich aber um keinen gezielten Protest gegen Staat und Partei,
sondern vielmehr um ein sich Auflehnen gegen die Zustände allgemein - gegen die
zahlreichen Verbote, gegen Willkür und
Polizeigewalt, gegen das Eingesperrtsein in der
DDR und die beschnittenen Freiheiten. Da es eine politische Opposition in der DDR nicht
gab, hinter deren Forderungen man sich stellen konnte, kippten Protestausbrüche schnell
in platt-antikommunistisch/antisowjetische und großdeutsche Ausbrüche. (Rassistische,
neofaschistische und antisemitische
Äußerungen gab es in den Siebzigern jedoch kaum.)
Gegenüber der DDR-Propaganda, die sich in den Anfangsjahren der Honecker-Ära
staatlich, geschichtlich und völkisch immer
mehr als eigenständig und losgelöst von der
BRD darstellte und Verbindungen mit den
Ländern des Ostens konstruierte, bezogen sich
die Fußballfans ständig auf den Westen.
Jeder hatte neben seinem hiesigem Verein einen Favoriten im Westen. Auf wilden
Schwarzmärkten vor den Kassenhäuschen in
Leutzsch und Probstheida wurden Poster, Wimpel und Anstecknadeln von Westvereinen
angeboten. Übertragungen der Bundesligaspiele
oder von Länderspielen waren Straßenfeger.
Ende der Siebziger explodierte der Tourismus von DDR-Jugendlichen zu Fußballspielen
westlicher Teams in die CSSR, nach Polen und Ungarn. Bis zu mehreren Hundert
Jugendliche (meist Berliner, Chemiefans und Jugendliche aus den Großstädten des Südens)
bildeten bei Spielen in Prag und Bratislava ganze Fanblöcke und konfrontierten die
örtliche Bevölkerung mit pseudowestlicher
Lebenskultur, die man auf Saufen, Provozieren und Randalieren reduzierte. In den
Achtzigern fingen tschechische Polizisten
DDR-Jugendliche bei Razzien dann einfach von der Straße oder aus Kneipen weg, sperrten sie
unter Tränengas in zugesperrte Sonderwaggons
und schickten sie zurück über die Grenze.
"Trinkfest und arbeitsscheu
und Chemie Leipzig treu
meine BSG Chemie
verlaß ich nie!"
Eine pseudowestliche Fankultur aus
Rebellen-, Landstreicher-, Abenteurertum entwickelte sich in der DDR zuerst bei den
zwei Vereinen Chemie und Union und setzte sich bei den anderen Vereinen erst Ende der
70er Jahre durch. Eine eigene Fankultur entwickelte sich in Leipzig unter den
Chemiefans aber erst Anfang der Achtziger. Dabei
machte sich diese Kultur mehr an Strukturen und Formen der Selbstorganisation fest, als
an Äußerlichkeiten. Die Mode der
Fußballfans unterschied sich gegenüber der der
anderen Jugendlichen nicht wesentlich. Schals und Fußballwesten trug man überall auf den
Fußballplätzen. Die erste Punk- und
Skinheadgeneration (ca. ab 1981/82), die ja
öffentliche Auftritte suchte, etablierte sich in
Leipzig jedoch nicht wie in Berlin beim Fußball.
Dazu war die Stadt dann doch zu klein und die
Szene zu mitgliederschwach. Die ersten Punks sah man etwa ab 1984 bei Chemie. Sie
nahmen jedoch jahrelang nur eine Gastrolle ein, bestimmten bis nach der Wende nie wirklich
das Geschehen.
Auch die Erfindung eigener Sprechchöre
und Schmählieder gegen Politiker und
gesellschaftliche Organisationen war keine
ausschließlich Leipziger Eigenart. Dass das ganze Stadion
aber "Scheiß NVA" oder "Stasischweine" rief,
war dagegen sicher nicht typisch für alle DDR-Stadien. Chemiefans, die bei
Länderspielen oder EC-Vergleichen von Lok im
Zentralstadion fast immer den Gegnerblock unterstützten, gaben sich fortan auch immer Mühe, die Sprechchöre so zu puschen, dass bald
das ganze Stadion (live übertragen) "Nieder
mit der DDR" skandierte und in Jubel
ausbrach, wenn der Gegenangriff lief. Die Reaktion
war dann meist, dass bei Übertragungen aus Leutzsch, der Wuhlheide oder dem
Zentralstadion der Ton völlig heruntergefahren
wurde.
Nach der WM 1974 und 78, bekam der
Fußball immer mehr eine
"Show"-Komponente, wurde er von den Medien und der
Werbeindustrie zunehmend als Konsumprodukt
für alle Bevölkerungsgruppen ausgeschlachtet.
Die ungebändigte Rebellenjugend mutierte weitgehend zur Konfetti- und
Papierschlangen-werfenden Hintergrundkulisse. Zäune
trennten die Zuschauer nun fast überall vom
Spielfeld, Sicherheitsbeamte sorgten dafür, daß
es im Stadion nicht zu größeren Exzessen
kam. Die "Action" fand daraufhin meist ums
Stadion und unter den Fans statt. Halle, Jena,
Erfurt, überall gab es die gefürchteten Parks
oder Fußgängerzonen, in denen sich die Fans
gegenseitig auflauerten und prügelten. Wer
zum Fußball ging, der wusste, dass es nach
Fußballspielen zu Massenschlägereien unter den
Fans kam, dass in Zügen und Bahnhöfen
randaliert wurde, dass es für die eigene Sicherheit
gefährlich werden konnte. Man wusste aber
auch, dass die Masse der Fußballfans
unheimlich viele Freiheiten bot, dass beim Fußball
Dinge möglich waren, für die man als
Einzelperson im Alltag sofort "abgehen" würde. Die
Aggressivität der Fans beschränkten sich auf
das Symbolisieren der eigenen Überlegenheit
im eigenen Terrain oder in der fremden Stadt, auf das "Ruppen" (das Erobern gegnerischer
Symbole wie Schals, Fahnen und Abzeichen) oder waffenlose Prügeleien. Es gab aber nicht
nur die Rivalität unter den verschiedenen
Städten und Mannschaften, sondern auch die
Rivalität unter den (in der DDR offiziell nicht
mehr existierenden) Ländern Sachsen, Preußen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und
Mecklenburg. Gerade die Rivalität zwischen
Sachsen und Preußen spitzte sich in den Achtzigern
(in denen die Hauptstadt besonders bevorzugt wurde und der Hauptstadtclub BFC
zur DDR-Vorzeigemannschaft zurechtgebastelt wurde) immer mehr zu. Da es ein
Problem "Fußballrandale" offiziell nicht geben
durfte, wurde von Seiten der Behörden im
Vorfeld nie konsequent genug geplant und eingegriffen. Ende der Siebziger kam es bei
Fußballspielen dann vermehrt zu Toten, meist
außerhalb des Stadions. Die Todesfälle
wurden durchgängig verschwiegen und lebten
nur unter den Fans als Mythen fort.
Wo es sich aus der ungünstigen
Ligaposition einer Mannschaft jedoch ergab, dass
keine gegnerischen Fangruppen existierten (wie bei Chemie in der Liga), kam es vorrangig
zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Schließlich wurden Polizeihunde umgebracht,
Tonis umgekippt, Volkseigentum beschädigt
oder Parteisymbole bewusst geschändet. Gummiknüppel, Teleskopschlagstöcke,
Knebelketten und Polizeimützen waren begehrte Trophäen. Traten Chemiefans auswärts
in Massen auf, wie beim Gang vom Bahnhof zum Fußballstadion, dann schlugen diese
Menschenzüge oft in Demonstrationszüge
mit politischen Parolen gegen Staat und Partei um. Anfang der Achtziger zogen Fans
regelmäßig vom Leipziger Hauptbahnhof als
Demonstrationszug in die Innenstadt und mussten
von der Polizei dort mühsam und vor der erschreckten Bevölkerung gewaltsam
aufgelöst werden. Dem massenhaften Auftreten
von Unionern und Chemiefans traten die Einsatzskräfte (gerade in der Provinz) oder
die Zugbegleitungen völlig hilflos entgegen.
Zu Fußballspielen bewegte man sich fast ausschließlich mit dem Zug. Schwarzfahren
wurde zum Sport und mancher Transportpolizist oder Schaffner, der sich mit den Fans anlegte, wurde gedemütigt oder sogar aus dem
Zug geworfen. Schließlich kam es dazu, dass
die Union- und Chemiefans mit Sitzblockaden auf Kreuzungen u.ä. die Einsetzung von
Sonderzügen oder Sonderwaggons erzwangen.
Zu einer einzigartigen Fanfreundschaft kam
es über fast zwei Jahrzehnte zwischen den
Fans von Aue und Chemie. Man begleitete sich gegenseitig zu Heim und Auswärtsspielen
im gesamten Gebiet der DDR, organisierte untereinander Fahrten, Treffen und
Wettkämpfe. Ausgangspunkt dafür waren die
Kontakte des Chemiefanclubs "Grüne Engel"
(gegr. 1975) mit Fans aus Aue, die in den beginnenden Achtzigern mit dem Fanclub
Connewitz (gegr. 1979) und Cottbuser Fans und dem Fanclub West (gegr. 1981) mit der
VSG Wuhlheide Nachahmung fanden. Fanfreundschaften bestanden bei Chemie
außerdem nach Magdeburg und Riesa.
1981/82 kam es zum Aufblühen einer
neuen Fanclubkultur bei Chemie. Da die Fanclubs bei Chemie eigenständige
Organisationen darstellten, also völlig losgelöst vom
Verein und jeder staatlichen Kontrolle, wurden sie von den staatlichen Organen nicht
geduldet und verfolgt, sobald sie sich öffentlich
zu erkennen gaben. Einzelne Fanclubs nannten sich daraufhin VSG
(Volkssportgemeinschaft) oder gaben sich Phantasienamen wie
"Ortsgruppe Plagwitz". 1983 war die Anzahl
der Fanclubs bei Chemie auf ca. 80 angestiegen. Den Behörden fiel es immer schwerer
Argumente für das Verbot zu finden oder die Strukturen aufzulösen. Wo man von
offizieller Seite keine Unterstützung fand wie es
bei Union möglich war, wo man die
Fanaktivitäten unter dem Deckmantel
"Union-Jugendclub" laufen lassen konnte, agierte man völlig
eigenständig selbst und an allen Organen und
Vorschriften vorbei. Man trug unter den Chemiefanclubs jährliche Fanclubmeisterschaften mit
Hin- und Rückspielen aus, organisierte
überregionale Fanpokale von Freizeit- und Volkssportteams und machte in der
Freizeit viel miteinander. Die einzelnen Fanclubs
organisierten eine Art Vereinsleben, teilweise mit klaren Regeln und Programmen
außerhalb des Fußballs, man führte
Chroniken, Fanzines entstanden. Fast wöchentlich gab
es bei den unorganisierten Fanteams Freundschaftsspiele mit Volkssportmannschaften
und Freizeitteams, wurde man schließlich sogar
zu offiziellen Turnieren von Sportgemeinschaften und Betrieben geladen. Die Kontakte
der Fans gingen bald über die Stadtgrenzen
hinaus. Nachdem Chemiefanclubs 1984 zum jährlich stattfindenden Union Fanpokal
eingeladen wurden, nahmen zwölf Mannschaften
an der 1. DDR-Fanclub-Meisterschaft in Berlin teil. Ausrichter war wie beim
Union-Fanpokal der Union-Jugendklub. Zwei Chemiefanclubs teilten sich den dritten Platz. Im
Folgejahr organisierten Chemiefans die 2. Meisterschaft in Leipzig. Fortan kam es regelmäßig
zu Vergleichen und Turnieren verschiedener Fanteams, teilweise sogar vor jedem
Auswärtsspiel.
"50 Meter im Quadrat
Rundherum nur Stacheldraht
Weiß Du wo ich wohne?
Ich wohne in der Zone!
Doch einmal wird es anders sein,
Dann sperren wir die Bullen ein
und Chemie Leipzig wird dann
Deutscher Meister sein..."
Die Sicherheit beim Fußball
gewährleistete die Volkspolizei, Wehrpflichtige der
Bepo (Bereitschaftspolizei), freiwillige Helfer
der Volkspolizei sowie die Leipziger Gruppe der Sportordner, die sowohl bei Lok als auch
bei Chemie eingesetzt wurden. Die Ordnungs- und Sicherheitsdienste besaßen wenig
Durchsetzungskraft und Motivation. Zu diesen Organisationen verpflichteten sich (wie zur
Volkspolizei) bis in die Achtziger hinein meist
nur Deppen oder gescheiterte Existenzen. Hundehalter, die ihre Zöglinge abrichten
ließen, fanden sich schnell als "Helfer der
Volkspolizei" beim Fußball wieder. Zudem
verfügten die Sicherheitsorgane kaum über
funktionierende Kamera- und
Überwachungstechnik. Außer Hunden und Gummiknüppeln
kamen keine Schutzmittel oder Waffen zum Einsatz. Mit schwierigen Situationen vor oder
nach Fußballspielen war man deshalb immer
überfordert und konnte die Hauptakteure bei Randalen meist nicht dingfest machen.
Immer wieder versuchte man über IMs
und Kontaktpersonen der Fußballvereine gegen die "feindlich negativen Kräfte bei
Chemie" vorzugehen. Dabei wurden gezielt
Jugendliche unter 18 Jahren über die
Berufsschulen geworben, die in Kontakt mit Fanclubs
standen. Eine andere Methode war es, Jugendliche, die nach den Gesetzen der DDR
straffällig geworden waren, mit der Androhung
von Verurteilungen und Gefängnisstrafen zur Zusammenarbeit zu zwingen. Andere
Beispiele sind von Armeeangehörigen bekannt, deren Post kontrolliert wurde und die
man innerhalb der verschärften NVA-Bedingungen zur Preisgabe von Informationen
zwang. Nachdem die Zersetzung der Chemiefans nicht gelang, 1983 sogar ein regelrechter
Boom einsetzte, lockerte man das Verbot von Fanclubs und versuchte die Jugendlichen
durch Zusammenarbeitsangebote an den Verein zu binden und somit zu kontrollieren. Fans,
die 1984 mit Zusammenarbeitswünschen an Chemie herangetreten waren, wurden als
eigenständige Sektion "Sportwerbegruppe"
im Verein integriert und zu Ordnungsdiensten und Informantentätigkeit überredet.
Die Zusammenarbeit scheiterte schnell, da sich die Fans nicht vereinnahmen ließen. Als
1984 Chemiefans zu Fanclubs aus dem Westen Kontakte geknüpft hatten, man in
Leipzig regelmäßig Besuch bekam und
gemeinsame Fußballspiele organisierte, ging man
härter gegen die Fans vor, versuchte man es
mit Repression. Unter Androhung von Haft- und Geldstrafen wurden Treffen verboten.
Einzelpersonen wurden zu Rädelsführern
ernannt, man zerstörte berufliche Karrieren
und der Personalausweisersatz - PM 12 - kam zur Anwendung. Zur Ausschaltung
besonders aktiver Personen wurden ab 1985 gezielt
10-Punkte-Pläne erarbeitet, um diese zu
kriminalisieren, deren Ruf zu schädigen, Karrieren
zu zerstören, sie zur Armee einzuberufen oder letztlich in den Westen abzuschieben.
Personen-, Post- und Telefonüberwachung
setzte ein, Privatbereiche wurden verwanzt, IMs
eingeschleust und Einreiseverbote für Westler ausgesprochen. Der Arm der Stasi reichte
bis nach Prag, wo man bei Treffen Wanzen aus Steckdosen und Radios fischte. Da eine
durchschlagende Kriminalisierung dieser
Aktivitäten nicht gelang und auch
Einberufungen und Schikanen keine Erfolge zeigten,
verstärkte man den polizeilichen Druck und
die Gängelung setzte sich in Schule,
Arbeitsbereich u.ä. fort. Die Reaktion waren
Ausreiseanträge und eine völlige Abkehr vom
DDR-System. Ab 1984 begann man medienwirksam mit Schauprozessen gegen Chemiefans
(meist wegen Bagatelldelikten und gegen wahllos herausgegriffene Personen) Druck auf
die Jugendlichen auszuüben. Die Kontrolle und Begleitung der Fans bei Auswärtsfahrten
wurde besser organisiert, Bahnhöfe wurden mit Polizeiketten abgesperrt, Sonderzüge
und Waggons wurden eingesetzt, Chemiefans in fremden Städten eingekesselt. Stasileute
in Zivil begleiteten die Fangruppen. In den Stadien wurden speziell präparierte
"Gästefanblöcke" eingerichtet, in denen die Fans
während des Spieles gefangen gehalten werden konnten. Bei den Polizeikontingenten
fanden Polizisten Gefallen an Fußballeinsätzen und die Möglichkeit willkürlich Macht
auszuüben oder straffrei zu prügeln. An
Spieltagen von Chemie wurde der Verkauf von Alkohol in den jeweiligen Städten
verboten und die Öffnung von Kneipen und
Diskotheken untersagt. Wegen eines Pressefestes in Rostock wurde ein Aufstiegsspiel von
Chemie 1984 nach Stralsund verlegt, gab es wegen alljährlicher Randale in Dessau
Innenstadtverbote, kesselte man Chemiefans über
Stunden ein.
Am Tag des Schmidt-Besuches in der
DDR, an dem auch das Kriegsrecht in Polen ausgerufen wurde, duldete man "Helmut
Schmidt - nimm uns mit - in die
Bundesrepublik"- Sprechchöre von Chemiefans in Dessau.
Nach chaotischen Episoden zwischen Fans und übereifrigen Polizisten mit gezogener
Dienstwaffe (wie eben in Dessau), setzte ab Mitte
der Achtziger ein Deeskalationskurs der Polizei ein. In den großen Städten des Landes
ließen sich die Sicherheitsorgane nicht mehr
provozieren, duldeten Provokationen oder resignierten vor der Masse. Nur in Kleinstädten
versuchten sich übereifrige und
realitätsferne Glaubenshüter, provozierten damit meist
noch ärgere Ausbrüche. Man ließ die Fans
größtenteils gewähren und kümmerte sich nur
noch um den schnellen An- und Abtransport, sowie die zügige Abarbeitung der
Strafverfahren. Dadurch entstand ein neuer Freiraum
für Fußballfans, der Neueinsteiger anzog und
zu immer neuen Ideen motivierte, um die Toleranzgrenze der Behörden auszureizen.
Diese Entwicklung führte dahin, dass man sich in
der Masse alles erlauben konnte, solange man die Ordnungsmacht nicht tätlich angriff.
Fasziniert von diesen Möglichkeiten
provozierten Fußballfans fortan zunehmend mit
antikommunistischen, antisowjetischen und rassistischen Äußerungen, die Ende der
Achtziger direkt in Angriffe auf Sowjetsoldaten,
ausländische Gastarbeiter, sowjetische Soldatenfriedhöfe und antifaschistische
Gedenkstätten übergingen. Obwohl die Stasi nun
vermehrt fotografierte und ermittelte, kam sie
diesen Entwicklungen nicht mehr nach, hatte durch die vermehrte Abschiebung von
Gefangenen in den Westen auch kein wirksames Druckmittel gegen die Jugendlichen mehr in
der Hand.
Beim 1. FC Lokomotive, der national
und international Erfolge errang, versuchte man das Geschehen auf den Rängen unter
Kontrolle und auf Parteilinie zu halten, indem man Tickets für begehrte Spiele nur über die
Betriebe und gesellschaftliche Organisationen verteilte, somit über die Leipzig- und
DDR-Jubel-Propaganda verstärkt linientreues
bzw. gefügiges Publikum aus dem Landkreis,
aus Schulen und gesellschaftlichen Organisationen installierte. Der FCL war und wurde
immer mehr zum Vorzeigeklub der Stadt, zum Spielzeug von Funktionären, zur Brot-
und Spiele-Maschine. Das Rebellenpotential beim FCL wurde vom Massenzulauf der
Sportspektakelzuschauer in den Achtzigern
ersäuft und zog sich als Eliterandgruppe von
der dumpfen Masse zurück, hob sich fortan
durch immer besser inszenierte Gewaltaktionen ab.
"Wenn das der Führer wüßt,
was Chemie Leipzig ist,
dann wär er nur in Leutzsch,
denn Leutzsch ist deutsch!"
Während die Hippie- Gammler- und
Anarchojugend der Siebziger gegen alles rebellierte, was spießig-bürgerlich und
diktatorisch-brutal das Leben im Sozialismus der DDR
ad absurdum führte, setzte sich mit den Ausreisewellen der Achtziger die
Deutschlandmacke bei der Mehrzahl der Fans durch.
Man bezog sich zwar noch nicht auf ein wiedervereinigtes Großdeutschland, dafür aber um
so mehr auf die BRD, auf die Bundesliga, die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft
usw. In der DDR war man gezwungenermaßen nur Gast, hatte gemeinsam mit seinem
Freundeskreis und den Arbeitskollegen den DDR-Alltag zu ertragen, und durch Cleverness
und Frechheit das Beste für sich daraus zu
machen. Aus der überwältigenden Fanmasse
heraus, die ab 1984 Chemie begleitete, richteten
sich die verbalen Attacken immer mehr gegen die "Roten" (personifiziert von den
Fußballspielern der Stasi- Polizei- und
Armeemannschaften), gegen Sowjetsoldaten, denen
man (entgegen der DDR-Propaganda) die Nachkriegsvorurteile vom
unzivilisierten Vergewaltiger anhängte, sowie gegen
Ausländer in der DDR, die als Gastarbeiter
oder Auszubildende verstärkt ins Land geholt
wurden. Da diese Menschen nicht in den DDR- Alltag integriert wurden, sondern auf
Betriebsgeländen zusammengepfercht in Wohnheimen untergebracht waren, wurden sie
als "Fremde" und kulturlose Störenfriede,
als Konkurrenten im Konsumentenwettstreit und als Blutschänder deutscher Frauen
diffamiert und immer öfter auch tätlich angegriffen.
Im Zusammenhang mit Fußballspielen von Chemie kam es Mitte der Achtziger zu
Hetzjagden auf Farbige und zu Angriffen auf
Wohnheime. Die Politik ignorierte diesen
aufkommenden Rassismus, da es diesen in der
sozialistischen DDR nicht geben durfte. Die Behörden
traten größtenteils selbst rassistisch auf, die
Medien schwiegen oder verklärten das Bild vom Ausländer in der DDR völlig realitätsfern
und lächerlich.
Die Zuspitzung der Gewalt durch
den Hooliganismus der Achtziger versuchte die Führung in eigene Bahnen wie Militär oder
in den Leistungssport zu lenken. Ursachenforschung oder Aufklärung fiel aus.
Dagegen buhlte man um die gewaltbereiten Jugendlichen, machte den Armeedienst,
FDJ-Ordnungsgruppen, Körperkult-Jugendklubs und Leistungssporteinrichtungen für sie
attraktiv. Um diese Jugendlichen nicht zu verschrecken, verzichtete man auf die sonst
übliche politische Dauergängelung, versetzte
sie durch Zuwendungen sogar in eine gehobene Sonderrolle. Das Gewaltpotential wurde
damit zwar umgeleitet, war auf der Straße
aber weiterhin präsent. Mit dem Boom der Skinkultur, die nach den
Propaganda-Hetzattacken 1987 in der DDR fast
ausschließlich Neonazis produzierte, die in den
Skinheads eine neue SA sahen, gerieten den
Behörden die militanten Subkulturen völlig aus der
Kontrolle. Man verstand die Entwicklungen
überhaupt nicht, konnte die verschiedenen Subkulturen weder identifizieren noch
deren Kultur und Ideologie verstehen und einordnen. In staatlichen Jugend- und
Kultureinrichtungen setzte teilweise eine
Unterwanderung durch rechte Skins und Hooligans
ein. Kam es zu Konfrontationen mit der Staatsgewalt setzte man nur noch mehr Polizei
ein. Politische, rassistische und neofaschistische Straftaten verurteilte man unter
Rowdytum u.ä.
Mit der Glorifizierung des Preußentums
ab Ende der Siebziger, und dem Schmusekurs der SED zur BRD Ende der Achtziger
(Westkredite, SED-SPD-Erklärungen, Zusammenarbeit mit Westunternehmen) wurden
die Grundlagen für einen hausgemachten Nationalismus geebnet. Zudem distanzierte
man sich nach Glasnost und Perestroika 1986 offiziell immer deutlicher von den anderen
sozialistischen Staaten, beschwor eigene
"deutsch-nationale" Werte, hinter die sich fortan
auch Sozialismusgegner stellen konnten. "Nur
ein Leutzscher ist ein Deutscher", "Leutzsch
ist Deutsch" sind Fan-Sprechchöre bei
Chemie, die in dieser Zeit entstanden sind und sich
auf eine nationale Identität außerhalb von
DDR und BRD beziehen.
Dass die DDR am wirksamsten beim Begriff Faschismus zu treffen war, den sie durch
den DDR-Sozialismus für ausgerottet
erklärte, merkten auch die Fußballfans. Während
sich Ostberliner (durch die Nähe zum Westen
mit den neuesten Trends und Entwicklungen vertraut) schon Anfang der Achtziger
nationalistisch und neofaschistisch artikulierten,
war die Provinz auf die Informationen der DDR-Hetzpropaganda angewiesen, die sie für sich
in ihr Gegenteil verkehrte. Abschreckungsberichte über die "Wehrsportgruppe
Hoffmann", den Hertha-Fanclub "Zyklon B."
oder die Dortmunder "Borussenfront" wurden
rein aus Provokation aufgegriffen und nachgeahmt. Mit der Zeit wurden die
aufgesetzten Allüren dann für viele zum Programm,
wurden Schocksymboliken zu Leitbildern. Durch die Militarisierung des DDR-Alltags
(GST, Armee, Zivilverteidigung...) hatten es zudem Nationalisten und Militariafans leicht,
deutsche Uniformteile, Literatur und Waffen zu sammeln, Wehrsportlager zu spielen oder
in der Clique militärische Macht zu
demonstrieren. Spielte Chemie z.B. ab 1987 in
Kleinstädten der DDR, knallten die Schuhe der Chemiefans zu Hunderten martialisch
im Gleichschritt auf dem Pflaster zwischen Bahnhof und Stadion, hallte ein
markerschütterndes "Sieg" (als Ersatz für Sieg-Heil!) durch
die Stadt, und das alles trotz Polizeiketten und Stasikameras. SA-Lieder wurden gesungen
und abgewandelte Nazi-Symboliken verwandt. Auch der in Mode kommenden
HJ-Tracht mit Seitenscheitel und Hitlerbart war
behördlich kaum etwas entgegenzusetzen.
Nachdem sich das Schwarz-Rot-Gold der BRD auf Chemiefahnen gegen die Verbote der
Behörden in der zweiten Hälfte der Achtziger
durchgesetzt hatte, tauchte nun vermehrt Schwarz-Weiß-Rot auf, das bis weit nach der
Wende nicht als nationalsozialistisches Symbol
erkannt wurde. Parallel zum Erwachen eines neuen Neofaschismus in der DDR und auf den
Fußballplätzen, hielten auch rassistische und antisemitische Äußerungen Einzug, obwohl es
in der DDR kaum Berührungspunkte mit Juden oder "Türken" gab, auf die sich viele
Diffamierungen bezogen. Die Vereine, Behörden und Medien gingen darauf nicht ein, teils
aus Unverständnis, teils weil sie selbst
rassistisch und national-völkisch agierten. Berliner
Hools provozierten schließlich hauptsächlich
mit neofaschistischen Allüren, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen
Hooliganauftritten in Leipzig und fanden landesweit
Nachahmer. Ende der Achtziger und vor allem nach
der Maueröffnung wurde das Neonazioutfit zur Jugendmode. Wie oberflächlich in der
Fanmasse bei Chemie mit Symboliken umgegangen wurde, bewiesen gerade die
Entwicklungen im Spätsommer/Herbst 1989. Noch
bevor man es auf den Straßen um die Nikolaikirche tausendfach hörte, skandierte
der Dammsitz in Leutzsch im September "Neues Forum", wenige Wochen später
"Deutschland einig Vaterland" und kurz darauf
riefen die gleichen Leute nach "Schönhuber",
der sich zu einer Kundgebung auf dem Leipziger Marktplatz angekündigt hatte. Dass die
Liebe zu den westdeutschen Brüdern und Schwestern nicht so groß gewesen sein kann, wie
sie zur Wende auf der Straße beschworen
wurde, beweist, mit welcher Verzückung die
ostdeutschen Fußballfans und Hooligans nach der Maueröffnung über die Westvereine
herfielen. Zum ersten Spiel im Westen reisten im Mai 1990 über 1000 Chemiefans nach
Hannover und disziplinierten gewalttätig und
arrogant sofort die völlig verdutzten Westler
im Stadion. Bei Länderspielen der BRD traten
ab 1990 auch randalesüchtige Ostberliner und Lok-Hools auf, die bei Oberligaspielen
nun schon Polizisten samt Schutzausrüstung im Stadioninneren der Oberligaarenen
angriffen. Während alles auf Kurzbesuch im
Westen war, um die 100 DM Begrüßungsgeld
abzufassen oder sich mit Videorecorder,
Pornoheften und Billigwagen einzudecken, füllten zunehmend nur noch "erlebnisorientierte" Fans
die Stadien der großen Vereine der Oberliga.
Die ersten rechten Skins in Leipzig
sammelten sich übrigens ab ca. 1987 beim 1. FCL
und integrierten sich in die dortige
Hooliganszene. Junge Cliquen, vor allem aus den
Neubauvierteln Grünau, Schönefeld und
Mockau stießen nach.
"Wir sind Sachsenjungen
und bilden uns was ein
es kann nicht jeder Deutsche
ein Sachsenjunge sein"
Mit dem Einsetzen der Hooliganwelle
1979/80 und aus der Situation der Bonzen-Klubs BFC und Lok heraus, nicht auf "Masse"
bauen zu können, rückten die harten Fans dort
als eine Art Elite zusammen. Ein Beispiel dafür
ist die erste Generation der BFCer, die durch aberwitzige Aktionen und absolut
DDR-untypisches Verhalten auffielen und den Keim der gewalttätigen DDR-Hooligans der
80er bildeten. Bei Lok setzte die Elitebildung Mitte der 80er ein, die sich (genau wie beim
BFC) nicht gegen das System oder seine Vertreter richtete, sondern vorrangig immer gegen
andere Fußballfans. In Leipzig ging es vor
allem darum, in den Leipziger Ortsderbys klarzustellen, wer die wirkliche Macht auf der
Straße darstellte. Während Chemieanhänger
aus der Dynamik der Masse heraus agierten, organisierten und planten die Lokanhänger
gezielt Aktionen und errangen dadurch zunehmend Erfolge, zum einen, um Angriffe
erfolgreich abzuwehren, zum anderen schließlich
auch um gegen andere vorzugehen. Die Vereinsleitung und die politischen Funktionäre
der Stadt ignorierten diese Entwicklungen und spielten sie als "Fußballbegeisterung"
herunter, um ihren Vorzeigeklub kein schlechtes Image aufzudrücken. 1983/84 bildeten
sich mit den Fanclubs "Teutonia" und "Die
Raben" die ersten Fanclubs beim FCL, die durch eigene Aktionen oder durch
Mythenbildung gewaltbereite Jugendliche aus Leipzig in
Massen anzogen. In der Masse der aktiven Chemiefanclubs gab es nur "Die Sorglosen" und
die "Sächsische Volksfront", die gewaltbereit
auftraten, das Geschehen im großen Fanlager jedoch nie wie beim Ortsnachbarn
dominieren konnten.
Parallel zu den gewaltbereiten Fanclubs
beim FCL verfügte die Szene in Probstheida
noch über andere gewaltbereite Kleingruppen,
meist ehemalige Stadtteilcliquen oder Kneipenbünde. Schon Anfang der Achtziger hatte
sich der Fanblock bei Lok durch ständige
Angriffsversuche hunderter Jugendlicher direkt neben den Gästeblock verlagert. Dieser
zweite Block zog fortan hauptsächlich
gewaltbereite Klientel an. Schließlich war man so stark
geworden, 1983 das Markenzeichen der Ostberliner Hools (ein BFC Spruchband) aus
dem von Polizei stark beschützten Gästeblock
zu erobern. Mitte der Achtziger begab sich der FCL mit dem BFC, Union, Halle und
Erfurt immer deutlicher in den Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft in der
DDR-Hoolszene. Bei Heimspielen und Auswärtsfahrten
mauserte man sich zur ernstzunehmenden Fangemeinde. Diese Stärke bewußt
ausnutzend, lauerte man ab 1983 nach Heimspielen
gezielt Gästefans im angrenzenden
Volksparkgelände auf und als später Polizei eingriff, auf dem
An- und Abfahrtsweg zwischen Hauptbahnhof und Stadion. Die Prager Straße wurde
zum Hooligansportplatz, auf der aus
Seitenstraßen heraus Überfälle stattfanden oder
Straßenbahnen aufgelauert wurde. Die Brutalisierung
der Fußballgewalt, vor allem in Berlin, wo auf
dem Alex ständig Fußballfans
zusammengeschlagen und niedergestochen wurden, machte
es notwendig, daß sich Fußballfans immer
besser organisieren mußten. Wer den Angriffen
etwas entgegensetzen wollte, mußte Aktionen gezielt und paramilitärisch organisieren. Diese Neustrukturierung der Lokhools brachte
ihnen in der Saison 83/84 die Vorherrschaft in der Stadt, als sie zu den Ortsderbys in
Unterzahl erstmals die Chemiemassen vor dem Stadion des Friedens angriffen und
auseinander jagten.
Nach dem Abstieg von Chemie 1985
begleitete ein geringer Teil der gewaltbereiten Chemiefans nun den 1. FC Lok, der in
der Oberliga weiterhin Topspiele bestritt und wechselte mit der Zeit die Fronten. Beim
FCL hatte sich ein Hooligankern aus Schlägern
der "alten Schule" und jungen Modehools
gebildet. Neben den Massenspektakeln Rostock-Berlin und Dresden-Berlin wurden die
Spiele Leipziger und Berliner Teams unter
Hooligans zu einer Frage der Ehre. Berliner
mobilisierten alles, wenn es nach Leipzig ging, denn es
war klar, dass es bei Lok in Leipzig richtig
abging. Die Leipziger planten ihre Aktionen vom
Eintreffen des Berliner Zuges auf den Hauptbahnhof an, wo die Schlacht trotz Polizei
mit Biergläsern und Fäusten losging, sobald
sich die Waggontüren öffneten. Ab dem
Skandalspiel 1986 mussten die Berliner in Sonderbussen und extremsten Polizeischutz zum
Stadion und zurück befördert werden. Den Bussen wurde überall aufgelauert, und
sie lagen unter ständigem
Pflastersteinbeschuss. Die Lokfans waren 1987/88 so stark
geworden, dass es nicht mehr nur darum ging, die arroganten und zynischen Berliner Fans
durch die eigene Stärke zu demütigen, der
Ehrgeiz ging dahin, die Polizeikräfte an den Rand
ihrer Möglichkeiten zu bringen. Am Ende der
80er waren sie dann wirklich nicht mehr in der Lage, Gästefans zu schützen und die
Kontrolle auf der Prager Straße zu behalten, und das
trotz Schutzschilden und Überwachungstechnik.
Hool des FCL zu sein gehörte immer
mehr zum guten Ton in Leipziger
Schlägerkreisen (Einlassdienste in Discos, Bodybuilder- oder Kampfsportcliquen, Faschoskins und
Modemachos). Nicht zuletzt durch den anhaltenden Zuschauerzulauf des auf ständigem
Erfolgskurs wandelnden Vorzeigeklubs verfügte der FCL am Ende der DDR über
eine selbstbewußte, hochnäsige aber auch
relativ moderne Anhängerschaft. Neben dem
Kern der "alten" Leute hatte sich ein breites,
relativ homogenes Teenagerumfeld herausgebildet, das ausschließlich auf Action und
Krawallmachen aus war. Und dafür gab es bei
jedem Spiel in Probstheida eine Garantie. 1989/90 zählten die Lokhools neben den Berlinern
zu den gefährlichsten und gewalttätigsten in
der DDR. Fast die gesamte Jung-Neonaziszene Leipzigs traf sich 1990 bei Lokspielen im
ansonsten fast leeren Stadion. Polizei und Sicherheitsdienste stellten keine Autorität mehr
dar, galten nur noch als willkommene Sparringspartner. Schließlich kam es in Leipzig
regelmäßig zum Schusswaffengebrauch durch
Polizisten mit Toten und Verletzten.
Die Kluft zwischen Chemiefans und
Lokfans hatte sich durch die Entwicklungen noch mehr verstärkt. Während nach den Jahren
der Benachteiligung die alte Fanmasse nun auf ein Erblühen ihres Vereins hoffte, der neue
FC Sachsen fast ausschließlich von
laienhaften Fans getragen wurde, die vor Jahren
noch außerhalb der offiziellen Strukturen in
ihren Fanclubs aktiv waren, sammelte sich beim 1. FC Lokomotive das durch die
Wendewirren explosionsartig anwachsende
Gewaltpotential der Stadt. Geführt von den Alten
versuchten Lokhools den Chemiefans Schaden
zuzufügen, wo es sich ergab. Chemieanhänger
verachteten den FCL als Bonzen- und SED-Verein. Nationalisten und Neonazis, die
1990/91 durch gemeinsame Aktionen gegen Ausländer in der Innenstadt Leipzigs
Chemiefans und Lokhools in einer Sachsenfront
vereinigen wollten, hatten wenig Erfolg. Zu tief saßen die Wunden der
DDR-Vergangenheit und der Hass gegeneinander. Da man in
unterschiedlichen Klassen spielte, ging man sich
aus dem Weg, bis man notgedrungen bei Derbys aufeinander traf und nur extremste
Sicherheitsmaßnahmen das Schlimmste
verhinderten. Da Lok, später der VfB, alles
Neonazi/Hool/Schläger-Potential der Stadt anzog,
blieb Chemie, später der FC Sachsen, vom Neonazi-Hooliganproblem vorerst
verschont. Rechte, rassistische und antisemitische
Einstellungen und Äußerungen von
Zuschauern dominierten jedoch genauso wie in
Probstheida das Fußballgeschehen. Nach
stetigen Misserfolgen und durch die
gesellschaftlichen Umbrüche der Wende dünnte das
Fanpotential bei Chemie immer mehr aus. Einen Aufschwung und ein völliger Neuanfang
der Fankultur erlebte der Verein erst wieder mit den Erfolgen Mitte und Ende der 90er,
dann auch mit einer eigenen Skinheadsszene und Hooligans.
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