telegraph 3/99
Schwerpunkt
DIE JUGENDSZENE DER DDR IN DEN 80ER JAHREN
Gullymoy Geißler
1980 war ich 24 Jahre alt, 1989 demzufolge
33. Ist man noch Jugendlicher, wenn man schon ein Vierteljahrhundert hinter sich hat?
Meine Jugend erlebte ich in den 70ern. Erwachsen fühle ich mich zwar noch immer nicht,
doch die Faszination des Neuen konnte ich in den 80er Jahren nur noch selten empfinden.
Das hat sicher den Nachteil, das Lebensgefühl
der damals jugendlichen Menschen kaum nachempfinden zu können. Der Vorteil ist aber,
das Geschehen besser interpretieren zu
können, vor allem deshalb, weil ein Vergleich mit
"meinen" 70er Jahren möglich ist.
Inwiefern meine Beobachtungen
verallgemeinert werden können, möchte ich nicht
beurteilen. Faktisch war es so, dass ich die
zweite Hälfte der 70er Jahre zum großen Teil in
der gesamten DDR und die 80er Jahre mehr in Karl-Marx-Stadt beobachtet und erlebt habe.
Szene. Was ist darunter zu verstehen?
Außergewöhnliches, Nonkonformismus, Elite,
Subkultur, Untergrund? Wohl eine Mischung aus allem. Das Selbstverständnis der Akteure
dieser Szene oder derer, die gern dazu
gehören wollten, war ein anderes, als das jener, die
die Szene beobachteten. Das Beobachten der Szene konnte von Misstrauen aber auch
von Faszination geprägt sein.
Es gab unterschiedliche Strömungen der
Szene. Die Szenen der Künstler, der politisch Engagierten, der gegen die Gesellschaft
Aufbegehrenden. Die Strömungen ließen
sich natürlich überhaupt nicht klar trennen.
Dennoch war die Tendenz zu beobachten, dass auf eine Szeneströmung, der man sich
nicht zugehörig fühlte, verächtlich
herabgesehen wurde.
Im Karl-Marx-Stadt der 80er Jahre gab es
eine sehr gut überschaubare Zahl von später
so genannten Szenekneipen. Die Lokalitäten "Marta und "Güldener Bock" hatten
zur Straße den selben Eingang. Im Innern ging
es links in den "Bock" , eine Biergaststätte in
der sich die Kunden oder Tramper trafen. Auf der rechten Seite war der Eingang zum
Künstlerclub Marta. In den ersten Wochen nach
der Eröffnung durften dort nur Künstler
rein. Von staatlicher Seite wurde versucht, den Betreibern zu oktroyieren, wer Künstler
ist und in den Club rein darf. Die den Club betreibenden Künstler wollten sich zwar
nicht bevormunden lassen, spielten das Spiel aber mit. Die Tür öffnete sich nur, wenn man einen Zahlencode wusste, der am Eingang einzutippen war. Einem Bekannten wurde das
irgendwann zu bunt und er riss die Elektronik aus der Verankerung. Sie wurde nie
wieder repariert. Nun hatte die Künstler-Szene
freien Zutritt. Nach meiner Beobachtung gab es kaum Leute, die im "Bock" und in der
Marta verkehrten.
Eines Abends stand ich mit einem
Bekannten, einem "echten" Künstler, vor dem
gemeinsamen Eingang beider Gasthäuser. Aus
dem "Bock" kam ein schon etwas
alkoholisierter Kunde, der den Sinn unseres Gesprächs
offenbar völlig fehldeutete. Er beschimpfte
mich, dass ich mit meinen Westreisen nicht so angeben sollte. (Bis zu meiner ersten Reise in
den Westen vergingen in Wirklichkeit noch einige Jahre.) Was ich mir wohl einbildete. Er
wäre überhaupt nicht daran interessiert in
den Westen zu fahren, es ginge ihm hier gut. Der Zorn übermannte ihn allmählich und ich
bekam Prügel angedroht. Ein Kumpel des Bock-Kunden zog den Krakeeler bei Seite
und entschuldigte sich bei uns. Ich habe die
Situation lange Zeit deshalb nicht verstanden,
weil ich so überrascht war, dass dieser Mensch
mit seinen wirren Argumenten Partei für die
gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR ergriff. Von der Stammkundschaft im
"Güldenen Bock" hatte zu jener Zeit bestimmt
schon jeder Zweite seinen Antrag auf Ausreise gestellt und in der zweiten Hälfte der 80er
Jahre gehörte man schon fast nicht mehr zu
dieser Szene, wenn man sich nicht auch dazu bekannte "hier raus" zu wollen.
Resignation war ein spürbares Verhalten
bei den älteren Jugendlichen. Die Erwartungen an das, was man erreichen, anstellen und
unternehmen könnte, erschienen mir geringer als in den 70er Jahren.
Als Beispiel für diese Vermutung möchte
ich das Herumreisen innerhalb der Kundenszene nennen. An den Wochenenden fuhren
die Kunden zu Konzerten bekannter Gruppen über weite Strecken. Einen eigenen
PKW hatte von den Leuten in den 70er Jahren im Prinzip niemand. Im Konzertsaal traf man oft Bekannte aus fast allen Teilen der
südlichen Hälfte der DDR. In den 80er Jahren
schienen weniger Leute unterwegs zu sein. Dabei
war das Reisen für viele bequemer geworden.
Ein nicht zu unterschätzender Teil der Szene
besaß einen PKW.
Die 80er wirkten in ihrer Gesamtheit
ruhiger, langweiliger als das vorangegangene
Jahrzehnt. Die besonderen Ereignisse beschäftigten
die Bevölkerung und die Szene anscheinend nur kurze Zeiträume.
Gemessen an den auf mich
nachwirkenden innenpolitischen Ereignissen, empfand ich
es aber umgekehrt. Was war los in den 70ern? Biermann wurde ausgebürgert, was mich
kaum interessierte. Pastor Brüsewitz verbrannte
sich auf dem Zeitzer Marktplatz. Dieses Ereignis beschäftigte mich viel mehr. Als Folge
des gewaltsam beendeten Prager Frühlings
hatte sich 1968 Jan Pallach verbrannt. Ich sah in seiner Tat einen gewissen Sinn. Große
Teile der tschechoslowakischen Bevölkerung
wollten Freiheit für ihr Land erreichen und
Pallach protestierte stellvertretend für viele.
Brüsewitz wollte auch Freiheit (für die Jugend und
die Christen in der DDR). Aber er sah die Dinge dramatischer als sie eigentlich waren.
Sein Opfer wurde von vielen, auch von mir,
für ziemlich sinnlos gehalten, vor allem
deshalb, weil es in der DDR keine weiteren Auswirkungen hatte. Es gab zunächst keine
Nachwirkungen.
In den 80er Jahren war dagegen "mehr
los". Zunächst hatte der 1979 von der
NATO gefällte Nachrüstungsbeschluss seine
Auswirkungen in der DDR. 1983 waren
größere Teile der Bevölkerung so weit politisiert,
dass sie mehr oder weniger unverhohlen und aktiv kundtaten, keine weiteren
sowjetischen Atomraketen in der DDR zu wollen. 1984
gab es die bis dahin größte Ausreisewelle, seit
der Schließung der DDR-Grenzen 1961. Das warzunächst ein fast sensationelles Ereignis.
Bis dahin hatten Ausreisewillige zum Teil viele Jahre bis zum Verlassen der DDR
warten müssen. Aber nun waren die Dämme
relativ gebrochen bis zum Zeitpunkt der
völligen Grenzöffnung. Dieses Ereignis war aber
wiederum auslösendes Moment für die
zunehmende resignative Stimmung. Man hatte damit zu rechnen, dass Menschen, mit
denen man gemeinsam politisch arbeitet, ziemlich plötzlich verschwinden.
Ein großes Maß an Lebendigkeit
vermittelte in den 80er Jahren vor allem die
Punkszene. Dort schien sich ein wahrhaft buntes
Treiben abzuspielen. Die Punks vermittelten eine
gewisse Hoffnung auf Zukunft, die es nach dem Programm ("No Future") eigentlich nicht gab.
Am Beispiel der Punks zeigten sich auch
die reaktionäre Tendenzen in der Kundenszene. Als die ersten Punks auftauchten,
begegneten ihnen die Kunden mit der gleichen
Intoleranz, die sie als Langhaarige in den 60er und
70er Jahren durch die "Spießer" erfahren hatten.
Sylvester 1987 fragte mich ein alter
Bekannter, der in der Kundenszene so ziemlich alle
Höhe- und Tiefpunkte miterlebt haben dürfte,
ob ich wüsste was "das Schönste" sei. Als
ich verneinte antwortete er: "Die 60er
Jahre." Hier wurde mit drei Worten
ausgesprochen, was ich schon einige Jahre beobachtet
hatte. Die Kunden der DDR, die für mich seit
meinem 17. Lebensjahr ("Mit 17 da hat man
noch Träume ...") die Hippies (deren Leben
und Treiben ich ja nur aus dem Westrundfunk kannte) verkörperten, hatten sich als
Bewegung, als gesellschaftliche Kraft,
endgültig aufgegeben. Diese Szene hatte für mich
ihren Mythos, den ich mir aufgebaut hatte,
natürlich schnell verloren ab dem Zeitpunkt, da
ich selbst Teil von ihr wurde. Aber über viele
Jahre lernte ich Leute kennen, die meine
ursprünglichen Vorstellungen ("We can change the world, we arrange the world" _ Crosby,
Stills, Nash & Young) ebenso umsetzen wollten.
Dass nun von diesen Leuten kaum noch
jemand da war, ich sie zumindest aus den Augen verloren hatte, wurde mir durch diese
Sequenz bewusst.
Zwischen 1978 und 1982 bildeten sich in
Karl-Marx-Stadt, wie auch in anderen Orten der DDR, thematisch arbeitende Gruppen
und Kreise heraus. Sie waren im Vergleich zu den Aktivitäten inhaltlicher Art, die es auch
früher schon gab, fester strukturiert und in
ihrer Arbeit verantwortlich. Die Gruppen bestanden viele Jahre zumeist bis zur Wende 89/90.
Ausgangspunkt für ihre Existenz war der
in Karl-Marx-Stadt zwischen 1977 und 1985 existierende Montagskreis. Gegründet wurde
er von "Kunden" die ehemals auch die
Junge Gemeinde besuchten und bei all ihrer Kritik an der Institution Kirche sich dennoch
als Christen verstanden. Der Kreis diente zunächst dem Bedürfnis sich mit
Gleichgesinnten zu treffen und über Themen zu
sprechen, die uns wichtig erschienen. Der
Montagskreis hatte in Karl-Marx-Stadt einen ähnlichen
Stellenwert wie die Jenaer JG Stadtmitte oder die Dresdner Weinberggemeinde. Im Laufe
der Jahre wechselten die Teilnehmer der wöchentlichen Zusammenkünfte ziemlich
stark, so dass einige Hundert junger Leute diesen Kreis erlebten. Der Zuspruch war sehr
unterschiedlich und pendelte zwischen 4 und 40 Teilnehmern pro Abend. Waren anfangs
die "Kunden" relativ unter sich und die
Altersunterschiede relativ gering, so kamen mehr
und mehr Jugendliche aus der Stadt, die von Bekannten erfahren hatten, dass es im
Montagskreis doch recht interessant sei. Der
Altersdurchschnitt der Mehrheit lag über die
gesamte Zeit bei etwa 20. Diejenigen, die von Anfang an dabei waren und blieben,
wurden natürlich immer älter, was zu
unterschwelligen Konflikten führte. Die Alten gaben wesentlich das Programm vor und behielten in den Diskussionen die Meinungsführerschaft. Sie waren zunehmend an
kontinuierlicher thematischer Arbeit (Themenbereiche
Frieden, Ökologie, Vorbereitung größerer
Veranstaltungen) interessiert. Dabei wurde von Jüngeren ein zu großes Maß an
Verbindlichkeit verlangt, was mit einem
allmählichen Wegbleiben und Erlahmen des
Montagskreises endete. Das Ende des Montagskreises wurde durch die üblichen Maßnahmen
des Staates (Repression und Intrige) beschleunigt.
Die schon erwähnten Veranstaltungen,
die von Mitgliedern des Montagskreises organisiert wurden, nannten wir "Kundentreff"
(70er Jahre), "Treffpunkt Kirche" (1980 - 1984) und Friedens- bzw. Sommerfest (1985 - 1989).
Die ersten Kundentreffs, die zunächst
monatlich organisiert wurden, hatten bei minimalem Aufwand eine ungeheure Wirkung,
jedenfalls was die Zahl der Teilnehmer anbelangt. Ein kirchlicher Saal, später eine Kirche
war Veranstaltungsort, eine Gruppe oder ein/e Interpret/in musizierte, zwischendurch
lasen wir Gedichte oder Bibeltexte vor und nach spätestens drei Stunden war alles vorbei.
Das Konzept war etwa so wie das der Bluesmessen in der Berliner Samarieter-Kirche. (Ich
will nicht sagen, dass die Berliner das kopiert haben, aber wir hatten zumindest früher
begonnen.) Und es kamen Hunderte, bei einigen Veranstaltungen bis zu 2000 Leute aus
der südlichen DDR.
"Treffpunkt Kirche" war aufwendig und
fand deshalb nur zwei Mal jährlich. Das
Treffen dauerte von Freitagabend bis (manchmal)
zum Sonntagnachmittag. Zu den Musikalischen Darbietungen kamen Lesungen,
Vorträge, Gottesdienst, Versteigerungen, die
Anfänge einer Multi-Media-Show (Dias +
Tonbandmusik) hinzu. Es kamen mehrere Hundert, zunehmend aber weniger Auswärtige.
Die Friedens- und Sommerfeste wurden thematisch noch genauer abgestimmt und
erweitert durch Ausstellungen und eine Publikation (Zeitung zum Fest). Bei diesen
Veranstaltungen waren Auswärtige die Ausnahme
und das Publikum bestand nicht ausschließlich
aus Jugendlichen.
An der Ausgestaltung beteiligten sich
zunehmend die seit Anfang der 80er Jahre
entstandenen thematischen Arbeitsgruppen.
In diesen emanzipatorischen Gruppen
bildeten Jugendliche über 20 Jahre die
Mehrheit, zumeist gehörten aber Personen dazu, die
man nicht auf den ersten Blick als Jugendliche bezeichnen würde.
Von allen in Karl-Marx-Stadt unter dem
Dach der Kirche politisch arbeitenden Gruppen war der Altersdurchschnitt schon jenseits
der Jugendlichkeit. Jugendliche unter 20 Jahren waren eine Seltenheit.
Man könnte vielleicht darauf schließen,
dass die oft zitierte Politikverdrossenheit in der DDR der 80er Jahre schon latent unter
Jugendlichen vorhanden war. Auch bei den Ereignissen des Herbstes 1989 waren
Jugendliche eher unterrepräsentiert. Eine
Ausnahme bildeten nur jene Demonstrationen vor dem 9. Oktober, bei denen noch die Gefahr
bestand, von der Polizei verprügelt zu werden.
Ich würde also behaupten wollen, dass in
den 70er Jahren mehr Jugendliche politisiert worden sind als in den 80er Jahren. Die
größere Wirkung politischer Aktivitäten und
erkennbare konzeptionelle Ausrichtung wurde von Leuten getragen, die bereits vor 1980
politisiert waren. Die Punkbewegung als charakteristische Jugendkultur der DDR der 80er
Jahre verlief ähnlich wie Die Bewegung der
Kunden in den 70ern.
Innerhalb der Kundenszene gab es in den verschiedenen Orten lokale Größen, die
in der gesamten Szene zumindest dem Namen nach bekannt waren. Diese Art von
Bekanntheit wurde ohne Zutun irgendwelcher Medien bewirkt. Der Ruf dieser Personen
wurde ausschließlich mündlich verbreitet. Die in
den 80er Jahren bekannt gewordenen Personen der politischen und der Kunstszene
verdanken den Grad ihrer Bekanntheit den Medien. Das waren zum einen die
elektronischen Medien der Bundesrepublik und zum
anderen die halb-legalen Blätter der Polit-
und Kunstszene.
Linke Zeitschriften unseres Landes
machen immer wieder auf die Vergangenheit
maßgeblicher bzw. sich so fühlender Personen
aufmerksam. Viele der in der 68er-Bewegung Aktiven finden wir heute wieder im
konservativen Lager, der "Neuen Mitte" oder
bei den extremen Rechten. Man kann derartige Wandlungen nachvollziehbar rational
erklären. Ein Nicht-Verstehen-Wollen haftet
dennoch in mir.
Vergleichbare Veränderungen sind auch
bei Protagonisten der verschiedenen Szenen in der DDR zu entdecken. Bekannte
Beispiele sind die aus der Bürgerbewegung
kommenden CDU-Mitglieder. Die Zahl derer, die ähnliche Positionen auch ohne
Parteibuch einnehmen, ist wahrscheinlich viel größer.
Wenn ich meine persönlichen
Bekanntschaften aus den 70er und 80er Jahren
durchgehe, stelle ich zumindest fest, dass mein
politischer, kultureller oder sozialer Standpunkt im
Vergleich zu dem anderer als extrem bezeichnet werden kann. Man könnte fast stolz auf
sich sein, wenn man vernachlässigt, dass mit
einem solchen Bewusstsein unter denkenden Menschen die Entwicklung der Gesellschaft
keinen guten Verlauf nehmen wird. In Gesprächen mit unterschiedlichen
Menschen ist mir aufgefallen, dass sie die Bedeutung der Worte Engagement und
Arrangement häufig verwechseln.
Möglicherweise haben ehemalige Freunde und Bekannte
ihren Platz im Leben, in der Gesellschaft ebenso falsch gedeutet. Sie meinten, gegen den
Strom der DDR-Gesellschaft zu schwimmen, indem sie in einer der Szenen angierten, sich
dort engagierten. Nachdem sich die Zeiten und die Umgebung geändert hatten, stellte
sich heraus, dass sie sich lediglich in einer
interessanten Nische arrangiert hatten. Man sollte ihnen deshalb nicht niedere
Beweggründe unterstellen. Aber kritische Nachfragen
sollte man ihnen nicht ersparen.
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