telegraph #120/121
ZWISCHEN DEN WENDEN
Jenz Steiner

Als sich 1989 die Pionierorganisation auflöste und ich kein Halstuch mehr tragen brauchte, wurde mein Pioniergeist gerade erst geweckt. Die Wende als 13jähriger Prenzlauer Berger mitzuerleben, wirkte nachhaltiger als jeder Initiationsritus. Ich brauchte keine Jugendweihe mehr. Die kleine graue Mietskasernenwelt um mich herum revolutionierte sich selbst und mich gleich mit. Magisch zog es mich in die unentdeckte Welt zwischen den Welten, die Unorte im Grenzgebiet, an denen die Zeit noch still stand. Ich erkundete lieber das Niemandsland als den Ku'damm. Die Magnetwirkung finsterer Geisterbahnhöfe unter der Stadt und leerer Wachtürme war stärker als die greller Kaufhäuser mit vollen Regalen. Die Bilder, die sich mir aus dieser Zeit eingebrannt haben, können gegensätzlicher nicht sein. Bitterer Niedergang beißt sich mit kühner Aufbruchstimmung: Hier eine heulende Staatsbürgerkundelehrerin, ein Erich-Honnecker-Portrait, das über den Schulhof fliegt, ein Parteisekretär, der sich vom Balkon in den Tod stürzt und ein Volkspolizist, der für seinen letzten Dienst nochmal die Paradeuniform anlegt. Da ein offener Brief im Hausflur, per Schreibmaschinendurchschlag vervielfältigte Flugblätter, selbst gebastelte Zeitungen und wedelnde Transparente an frisch besetzten Häusern.

Die „Stimme der DDR“ stellte ihren Sendebetrieb ein, denn plötzlich hatte unser kleines Land 16 Millionen Stimmen, die sich selbst Gehör verschafften. Jetzt lag auch mir mehr auf den Lippen als die Standardfloskel der Ja-Sager und Angsthäschen: „Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an“. Ich wollte, dass sich die DDR reformiert und ein humanistischer und unabhängiger Staat wird. Davon träumten auch die meisten meiner Freunde und die Erwachsenen um mich herum. Entsprechend groß war die Resignation nach den utopisch-anarchistischen Herbsttagen 1989, als die Macht auf der Straße lag und von konservativen Spießbürgern aufgelesen wurde. Mit deren Träumen von Westprodukten, Westgeld und einem großen Deutschland konnten wir nichts anfangen.

Wir wollten was bewegen und spürten plötzlich, dass das einzig und allein in unseren Händen liegt. Dieser Geist der Wendezeit prägt mich bis zum heutigen Tag und schenkt mir immer wieder neue Hoffnung. Wäre damals alles geblieben wie es war, würde ich heute wahrscheinlich totunglücklich als Lokomotivschlosser bei der Deutschen Reichsbahn arbeiten und noch immer davon träumen, irgendwann einmal selber eine Lok fahren zu dürfen. Oder ich würde Propaganda- Texte über die Planerfüllung der Werktätigen für das Neue Deutschland schreiben. Lokführer und Journalist - das waren meine großen Berufswünsche zu DDR-Zeiten. Doch zum Glück kam alles anders.

Der Schulalltag wurde bunter. Unsere Lehrer experimentierten mit neuen Lehrmethoden. Nun gab es Gruppenarbeit statt Frontalunterricht, runde Tische und Diskussionen. Doch beim Finden und Formulieren der eigenen Meinung taten wir uns in der frühen Nachwendezeit noch sehr schwer. Vielen von uns geht das heute noch so. Sich selbst durchsetzen, positionieren und präsentieren hatten wir in den acht Jahren an einer Polytechnischen Oberschule nicht gelernt. Wenn es jemand versuchte, empfanden wir das eher als hochmütig, arrogant und besserwisserisch. Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnte, wurde schnell als Wendehals abgestempelt. Wir blieben ein Klassenkollektiv und hielten vorerst weiter zusammen.

Erst die Schulreform 1991 gab jedem Einzelnen die Chance für einen Neustart. Wir waren die einzige Generation, die noch absolute Entscheidungsfreiheit bei der Wahl des Schultyps hatte. Wir konnten wählen zwischen Hauptschule, Realschule, Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe oder Gymnasium. Die meisten entschieden sich fürs Gymnasium. Meine Entscheidung war sehr pragmatisch. Ich wechselte zur kunstorientierten Gesamtschule. Die war nicht so weit weg und das Gebäude gefiel mir.

Mit dem ersten Schultag nach der Reform wurde wirklich alles anders. Die alten Freunde waren weg. Über die Sommerferien mutierten wir zu extremen Individualisten. In meiner neuen Klasse saßen jetzt Punks und Synthie- Popper, Hippies und Raver, Grufties und Anarchos und ganz allein in der ersten Reihe ein Aktenkofferträger mit Seidenblouson und Lederschuhen.

Ich war nun HipHopper und freundete mich mit zwei Graffiti-Malern an. Markenklamotten und Konsumwahn waren verpönt, T-Shirts mit dem eigenen Namen als Schriftzug galten hingegen als cool. Unsere neuen Feindbilder waren Nazis und Polizisten, Spießer und Spekulanten. Mädchen, die sich in Schale schmissen, schminkten und Handtaschen trugen, waren für uns „Tussen“ und hatten es schwer. Die coolen Girls hatten gefärbte Haare, trugen selbst genähte Sachen, zerlöcherte Kapuzenpullover, Stahlkappenschuhe, Armeehosen und bemalte NVA-Gasmaskentaschen mit „Safe DT64“-Aufnähern. In der Schuldisko lief Techno und Musik von Feeling B, Rio Reiser, City und Public Enemy.

Alle waren jetzt Künstler und in irgendwelche Projekte involviert. Unsere neuen Lehrer kamen größtenteils gerade von der Uni. Sie waren offen für alles und glaubten an uns. Gemeinsam mit ihnen gingen wir auf Demos, besetzten Straßen und das Schulamt. Schwänzen war okay, wenn man einen guten Grund hatte. Mit meinen Graffiti-Freunden veröffentlichte ich ab 1992 ein kleines Hip- Hop-Magazin und organisierte Rap-Konzerte in Jugendklubs. Alles gute Gründe, die mich öfter vom Schulbesuch abhielten. Die Erwachsenenwelt fand das toll, gab uns Starthilfe und spendete sogar Geld für unsere Vorhaben, wahrscheinlich weil sie solche Chancen in der DDR nie hatte. Ich glaube heute, dass das eine Besonderheit der Zeit und der Gegend war, in der ich aufwuchs.

Mein Heimatbezirk Prenzlauer Berg erlebte seine kulturelle Blüte zwischen 1990 und 1995. Verantwortlich dafür waren Menschen meiner Generation, die noch voller Idealismus und Tatendrang waren und die Welt verändern wollten. Von der fi xen Idee bis zum umgesetzten Projekt war es oft ein kurzer Weg. Man kannte sich, war untereinander vernetzt und half sich gegenseitig auf die Füße. Das lief alles etwas lockerer, undogmatischer und unkomplizierter als in Westberliner Hausprojekten und Kulturinitiativen. Als jedoch Berlins Kassen nach der gescheiterten Olympia- Bewerbung Mitte der Neunziger leer waren, verschwanden viele der freien Träger für Jugendarbeit so schnell wie sie entstanden. Jetzt wurde mir klar, dass ein Großteil der sub- und soziokulturellen Projekte nur durch ABM-Kräfte, FDJ-Altvermögen und zeitlich begrenzte EU-Fördergelder getragen wurden.

Mir tat es anfangs weh, wenn ich zusehen musste, wie besetzte Häuser und Jugendklubs teuren Restaurants, Eigentumswohnungen und Nobelläden wichen. Doch irgendwie musste es ja weitergehen. Wir brauchten uns nicht geschlagen geben. Wir hatten schon viel erreicht und standen auf eigenen Füßen. Jetzt mussten wir nur noch alleine laufen lernen.

Die großen gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelten sich im Kleinen. Alles wurde auf seine kommerzielle Verwertbarkeit abgeklopft. Staatsunternehmen wie Post und Bahn wurden privatisiert. Für viele von uns wurde das Hobby zum Beruf, während sich unsere Eltern Einfamilienhäuser im Berliner Umland errichteten. Meine Graffiti-Freunde eröffneten eigene Grafik- und Werbeagenturen, Tattoo-Studios oder Klamottenläden, einige Musiker gründeten ihre eigenen Labels oder Plattenläden. Andere studierten, studieren immer noch oder zogen in die weite Welt, um in der Ferne das zu verwirklichen, was hier nicht mehr ging. Ich stürzte mich in den Journalismus und Medienaktivismus, schrieb Bücher und Artikel für Zeitungen und Magazine.

Wer den Weg in die Selbstständigkeit einschlug, entschied sich für ein Leben, das einen permanent an die persönlichen und finanziellen Grenzen wirft. Das mag ein Grund dafür sein, dass sich viele beim Kinderkriegen mehr Zeit ließen als ihre Eltern. Dennoch können sich heute die meisten meiner gleichaltrigen Weggefährten kein reines Angestelltenverhältnis als Einkommensquelle mehr vorstellen. Der wilde Aktionismus der Pubertät ist bei nahezu allen verpufft. Ihre linke, humanistische und freidenkerische Grundhaltung haben sie sich hingegen bewahrt.

Natürlich sehe ich es als Privileg meiner Generation an, das Innenleben zweier Gesellschaftsordnungen von innen ergründet zu haben. Die Wendezeit war der wahrscheinlich wichtigste Impulsgeber der jetzt 30jährigen.

Für ostalgische Gefühle gibt es jedoch keinen Grund. Nach sozialistischen Verhältnissen brauche ich mich in Prenzlauer Berg wirklich nicht sehnen. Schließlich haben die neuen Bewohner meines Bezirks hier ihre kleine DDR-Welt nachgebaut, obwohl sie zu diesem verschwundenen Land gar keinen Bezug haben. Alles ist sauber, glatt und aufgeräumt. Nachts herrscht Ruhe und die Straßen sind leer. Die besserverdienenden „Concious Consumer“ sind die neuen Kader der Partei-Nomenklatura. Die Bio-Läden sind die Intershops. Die Rolle der Wühler und Saboteure des Klassenfeindes haben vermeintliche „linksterroristische Auto-Brandstifter“ eingenommen. Meckernde Omas, die mir den Bußgeldkatalog vorbeten, wenn ich mit dem Fahrrad auf dem Gehweg fahre, gab es hier schon immer. Zu großen Sportveranstaltungen werden die Fenster mit Fähnchen geschmückt. Eigentlich ist alles wie früher. Wir sind wieder am Start angekommen. Jetzt bin ich fast 33 und freue mich auf die nächste Wende.

Jenz Steiner ist Musiker und Autor und Betreiber des Blogs "prenzlauer berg".



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