telegraph #115
GUANTANAMO IST KEINE INSELLAGE
Der Fall Andrej H. als Prüfstein für die Sicherheitspolitik der Berliner Republik
Malte Daniljuk

Am Morgen des 31. Juli 2007 flogen in Berlin einige Türen auf. Bei sieben Personen veranstaltete das BKA Hausdurchsuchungen mit der Begründung, Gefahr sei im Verzug. Der telegraph-Autor und Sozialwissenschaftler Dr. Andrej H. wurde mitgenommen. In der Nacht zuvor waren drei Personen verhaftet worden. Sie sollen auf einem MAN-Gelände in Brandenburg versucht haben, drei LKW der Bundeswehr anzuzünden. Bei ihrer Vorführung am nächsten Tag in Karlsruhe wurde Dr. Andrej H. ein Haftbefehl präsentiert, dessen Inhalt für Proteste sorgt - nicht nur in Deutschland. Zugang zu Bibliotheken, intellektuelle Fähigkeiten sowie zwei angebliche Treffen mit einem der in Brandenburg Verhafteten reichten aus, um gegen den Sozialwissenschaftler einen Haftbefehl zu erlassen.

Neun Wörter zu viel
Der gleiche Bundesrichter hatte ein Jahr zuvor ein Ermittlungverfahren gegen vier Personen wegen § 129a Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingeleitet. In einem Text eines Leipziger Politikwissenschaftlers stellte das BKA im August 2006 neun einzelne Wörter fest, die auch in einem Text einer „militanten gruppe“ (mg) von 2004 verwendet werden.
In einem zweiten Schritt überprüfte das BKA das persönliche Umfeld des Autoren und erfasste drei weitere Personen, die gemeinsam mit dem Leipziger Wissenschaftler publiziert oder in einer Redaktion gearbeitet hatten. Unter ihnen war auch Dr. Andrej H. Für alle galt, dass sie sich zu Themen oder Stichworten geäußert hatten, die auch die mg in ihren Texten erwähnte, für alle galt, dass sie sich untereinander kannten und dass sie vielfältige politische Kontakte „auch in die linksextremistische Szene“ haben. Weil diese Kriterien auf einige hundert Personen in Deutschland zutreffen dürften, versuchte das BKA, seinem Anfangsverdacht mit dem angeblich konspirativen Verhalten der Verdächtigen Relevanz zu verleihen: Am Telefon habe man Orte, Termine und Inhalte von Treffen nicht explizit erwähnt.

Ein taktischer Fehlgriff der BAW
Diese dürftige Ausgangslage reichte aus, um gegen die vier Personen ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu eröffnen, das trotz ausuferndem Einsatz technischer Mittel fast ein Jahr vor sich hin dümpelte, ohne nennenswerte Indizien zu Tage zu fördern. Bis zur Nacht des 31.07. In dieser Nacht will das BKA nach eigenen Angaben drei andere Personen dabei beobachtet haben, wie sie versuchten Bundeswehrfahrzeuge in Brand zu setzen. Das Problem: Eine dieser Personen wurde angeblich observiert, weil sie sich Monate zuvor mit Andrej H. getroffen haben soll. Dieser Kontakt machte eine versuchte Brandstiftung zu einem Terroranschlag – jedenfalls in den Augen des BKA. Deren Greiftrupp spielte bei der Verhaftung in der brandenburgischen Nacht Stirb langsam. Das Fahrzeug der Verdächtigen wurde blockiert und die Fenster eingeschlagen. Die Beamten rissen die Insassen durch die herausgebrochenen Scheiben aus dem Auto. Einen, den sie nicht schnell genug herausbekamen, schlugen sie noch im Auto angeschnallt sitzend zusammen. Nach Angaben ihrer Anwälte zogen sich die Verhafteten Schnittverletzungen und Prellungen zu, bevor sie stundenlang auf der Straße liegen mussten - mit Kapuzen über dem Kopf, in weiße Schutzanzüge gekleidet und mit auf dem Rücken gefesselten Händen.

In größter Not blitzt die Erinnerung auf
Diese Ereignisse veranlassten die renommierten Sozialwissenschaftler Richard Se-nett und Saskia Sassen wenig später in einem Kommentar für den britischen Guardian von einem „Guantanamo in Germany“ zu sprechen. „Der Ausnahmezustand setzt sich durch“ stellten die beiden fest. Innerhalb weniger Tage regten sich internationale Proteste gegen die Terrorinszenierung der BAW. Der Sozialwissenschaftler Hartmut Häußermann sprach davon, dass „einige Politiker das Szenario einer permanenten Bedrohung [schaffen], um damit permanente Überwachung zu rechtfertigen“. Ehemalige DDR-Bürgerrechtler erklärten: „Einige von uns haben vor dem Herbst 1989 ähnliches staatliches Vorgehen gegen Kritiker selbst erfahren müssen - die Parallelen sind erschreckend und alarmierend!“. Der ehemalige Innenminister Gerhart Baum forderte in der Berliner Zeitung eine grundsätzliche Überprüfung des 129a. Innerhalb weniger Wochen unterschrieben tausende Personen verschiedene Protesterklärungen und die Generalbundesanwältin wurde mit unfreundlichen Briefen überschüttet, bis sie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung versichern musste, kein Bundesrichter würde einen Wissenschaftler nur seiner Publikationen wegen inhaftieren. Dass es irgendeinen anderen Haftgrund gibt, konnte jedoch auch sie nicht sagen, so dass wenige Tage später der fragliche Bundesrichter einem Haftverschonungsantrag für Andrej H. zustimmen musste. Wo liegt eigentlich Guantanamo? Es wäre verkürzt, diese vorläufige Haftverschonung als individuelle Reaktion eines Bundesrichters misszuverstehen. Das Signal ging in die Richtung eines sozial-liberalen Milieus, dass sich angesichts des totalitären Sicherheitsdiskurses zunehmend unwohl fühlt. Ihr seid nicht gemeint, sollte das heißen, und richtete sich an alle, denen die Guantanamo-Allegorie ein bisschen übetrieben schien. Es entspricht noch nicht dem Bild, das viele Besorgte von ihrem Land haben. Für andere hatte dieses Land wenige Wochen zuvor in Rostock neue Konturen gewonnen. Die Bundeswehr stellte Panzer an die Autobahnzubringer, Kampfflugzeuge überflogen Demonstranten, die Region wurde von der Polizei besetzt, mehr als 1000 Demonstranten wurden in Stahlkäfige gesperrt und vor Anwälten abgeschirmt. Pressesprecher und Pressevertreter berichteten unisono, die Polizei sei von bunten Clowns mit Säure angegriffen worden.
Wenige Wochen zuvor ließ die Generalbundesanwältin bundesweit Wohnungen durchsuchen. Unter anderem werden vier Buchautoren und ein Hochschuldozent aus Bremen beschuldigt, Terroristen zu sein. Das heißt nicht, dass man ihnen militante Aktionen vorwirft. Angesichts ihres fortgeschrittenen Alters, heißt es seitens der BAW, sei nicht von konkreten Tatbeiträgen auszugehen. Aber die Ermittlungen haben über 2000 Kontaktpersonen namhaft gemacht, die im Umfeld der Beschuldigten politisch aktiv sind.
All das ließe sich noch auf äußere Initiativen zurückführen, schließlich geben die lokalen Sicherheitsbehörden im Vorfeld der G8-Treffen automatisch ihre Souveränität ab.
Was machte die BAW außerdem? Kurz vorher kam heraus, dass die Bundesanwaltschaft bei den Ermittlungen in Sachen Generalbundesanwalt Siegfried Buback wichtige Hinweise auf die Täter bewusst unterschlagen hatte. Dann unterband die Generalbundesanwältin die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen der US-Regierung. Wenige Wochen später musste die Generalbundesanwältin einräumen, dass sie Post an Hamburger Zeitungsredaktionen kontrollieren ließ, und schließlich schleift ein Verfahren gegen die „militante gruppe“ seit sechs Jahren vor sich hin, ohne dass es nennenswerte Ermittlungsergebnisse gibt.

Kleiner Fehler im großen Spiel
Als das BKA in der Nacht zum 31. Juli meinte, drei Brandstifter auf frischer Tat ertappt zu haben, reagierte eine aufstrebende Staatsanwältin am BGH namens Vanoni schnell und meinte, sie könne jetzt den ganzen Sack zumachen. Die Verhaftung von Andrej H. brachte ans Licht, dass nicht nur bei der G8-Vorbereitung publizistische Tätigkeit zu Terrorismus wird. Vier Autoren der Zeitschrift telegraph werden seit einem Jahr observiert, ihre Telefone abgehört, sie werden mit ihren Handys und Peilsendern geortet, die Hauseingänge ihrer Wohnungen werden video überwacht, ihre Internet-Zugriffe werden ausgewertet. Das BKA forderte die MfS-Akten an und baute auf ihnen Schlüsse über die politische Geschichte der Beschuldigten auf. Auch hier kein Vorwurf einer terroristischen Aktion: Sie sollen die intellektuellen Urheber sein und die „vergleichsweise anspruchsvollen“ Texte der mg geschrieben haben. Dass die reale „militante gruppe“ im Überwachungszeitraum mehrere Aktionen machte und eine Reihe von Texten veröffentlichte, ohne dass die Ermittler irgendeinen Tatbeitrag der Beschuldigten feststellen konnten, focht ihr Verfahren keineswegs an. Brav unterschrieb der Richter am Bundesgerichtshof, Hebenstreit, dem BKA alle drei Monate neue Überwachungsverfügungen.
Die Welle der Empörung breitete sich schnell aus und die BAW hatte Mühe, die Chefredaktionen zu überzeugen, dass dies kein Thema für die erste Seite sei. Stattdessen boten sich zur Überbrückung chinesische Trojaner im Bundeskanzleramt an und dann kam vier Wochen später die ganz große Nummer: Islamistischer Konvertitenterror! Tatsächlich hätte eine ausufernde Debatte des Falles Andrej H. den Innenministern ihre Konferenz verregnet, auf der die SPD-geführten Bundesländer die Computerwanze und den Entwurf für das neue BKA-Gesetz durchwinken sollten. Mit drei Islamisten und 550 Litern Wasserstoffperoxid ließ sich hingegen die vermeintliche Hilflosigkeit des Rechtsstaates hinreichend illustrieren. Dass auch diese Drei schon seit einem Jahr observiert wurden und dies sogar wussten, dass sie Monate zuvor Thema von BKA-Zierkes Pressekonferenz waren und sich offen einen Jux daraus machten, die Observationsteams zu verarschen, dass sie nach Angaben von Chemikern noch Monate gebraucht hätten, um aus dem vermeintlichen Wasserstoffperoxid etwas Sprengstoffähnliches zu produzieren – all das wusste nur wenige Stunden nach ihrer Verhaftung jeder Journalist, der es wissen wollte. Aber niemand schrieb, Der Kaiser ist nackt.

Die Zukunft ist schon geschrieben
Was steht eigentlich in diesem neuen BKA-Gesetz? Und was sind die anderen Vorstellungen der Sicherheitsbehörden? Öffentlich diskutiert werden bisher scheinbar zufällige Ausrutscher wie: Verdächtige erschießen, Passagierflugzeuge vom Himmel holen und das Militär gegen Demonstranten einsetzen. Was diese kurzen Kontroversen von der öffentlichen Agenda verdrängen, geht weit über einzelne Vorstöße gegen die Verfassung hinaus. Es geht nicht mehr um die Aufklärung von Straftaten, sondern um „präventive Strafverhinderung“, wie Schäuble das nennt, und die werde immer wichtiger, „weil die Gefahren so groß sind“. Das Kunstwort der präventiven Strafverhinderer lautet: Gefährder. Das sind alle, die vielleicht möglicherweise unter Umständen irgendwann gegen Gesetze verstoßen könnten. Um alle diese hypothetischen Delinquenten rechtzeitig zu lokalisieren, hat Schäuble einen Katalog.
Dazu gehören Maßnahmen wie die Fingerabdrücke der gesamten Bevölkerung erfassen, die Online-Durchsuchung von Computern auch ohne konkrete Gefahr, Telefonüberwachung ebenfalls für präventive Zwecke, der Große Lauschangriff, also die Wohnraumüberwachung mittels Wanzen soll wieder aufgenommen werden. Dafür muss Schäuble das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2004 aushebeln, das die Kernbereiche der privaten Lebensführung unter Schutz stellte. Schäuble möchte, dass Ermittler und V-Leute konspirativ in Wohnungen einbrechen dürfen – ohne richterliche Zustimmung. Er will die Kronzeugenregelung, mit der Ermittler erpresserisch passende Aussagen produzieren können, wieder einführen. Er möchte schließlich, dass alle Sicherheitsbehörden auf diese neuen Informationsberge zugreifen können, also im Klartext, dass das Trennungsgebot von Geheimdienst und Polizei aufgehoben wird. Ebenfalls präventiv möchte Schäuble die Rasterfahndung einsetzen, mit der Daten aus unterschiedlichsten Dateien miteinander verknüpft werden, um „Gefährder“ zu identifizieren, die Mautdaten sollen präventiv durch das BKA abgefragt werden, mit der Vorratsdatenspeicherung können ab Januar außerdem alle Kommunikationsverbindungen – Telefone, Handys, E-Mails – für jeweils das letzte halbe Jahr abgefragt werden. Das Alles soll nicht nur gegen „Gefährder“ eingesetzt werden, sondern auch gegen deren Kontaktpersonen. Alle sind gemeint. Aber natürlich betonen Schäuble und Zierke gerne und oft, dass es hier nur um ganz wenige Einzelne geht. Ganz viele Einzelne sind zum Beispiel die Nutzer der mehr als 40.000 (vierzigtausend) Telefonanschlüsse, die nach Angaben der Bundesnetzagentur alleine 2005 in Deutschland abgehört wurden.

Öffentlichkeit als polizeilich kontrollierter Raum
Realistischerweise muss unterschieden werden zwischen denjenigen, die gemeint sind – nämlich Alle – und denen, die es zuerst treffen wird. Angesichts der Ermittlungsmethoden lässt sich das klar vorhersagen. Es ist kein Zufall, dass in den aktuellen Terrorismus-Verfahren Menschen ins Visier der Fahnder kamen, die viel publizieren und sich öffentlich äußern. Da die Sicherheitsbehörden zuerst öffentlich zugängliche Quellen nutzen, trifft es vor allem diejenigen, die viel veröffentlichen, recherchieren und viele Kontakte haben. Es trifft Journalistinnen und Journalisten, Publizisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, es trifft politische Aktivistinnen und Aktivisten. Da das BKA in Veröffentlichungen nach Stichworten sucht, weil es Leute sucht, die auf bestimmte Homepages zugreifen und bestimmte Literatur bestellen oder ausleihen, weil das BKA an Personen dranbleibt, die sich mit anderen Leuten treffen, deshalb werden diese Personenkreise in der Gruppe der „Gefährder“ immer überproportional vertreten sein und zum Ausgangspunkt verschiedenster Ermittlungsverfahren.
Da trifft es sich gut, dass die (mediale) Öffentlichkeit ein zunehmend härter umkämpfter Raum ist. Nicht nur, dass die Qualitätsmedien jede noch so absurde Terror-Geschichte der Sicherheitsbehörden aufblasen und so eine paradoxe Sicherheitssituation orchestrieren, in der immer weniger Kriminalität immer gefährlicher dargestellt wird. Das Problem geht weit über sicherheitspolitische Fragestellungen hinaus: SPD und CDU regieren in den zentralen Projekten offen gegen die Mehrheit der Bevölkerung, egal, ob es um Hartz IV geht, oder die Auslandseinsätze, oder um die neuen Sicherheitsgesetze. Die Mehrheit ist dagegen und die politische Klasse weiß, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Ihre demoskopischen Kontrollsysteme aus Allensbach und anderswo vermelden seit Monaten das Gleiche. Schäuble schafft, präventiv, einen Sicherheitsstaat, der die Entscheider in diesem Land zukunftsfähig macht: Fähig, zukünftige Proteste und Widerstände im Ansatz zu lokalisieren, zu stigmatisieren und zu unterdrücken. Die Einstellung der Mehrheiten orientiert sich unterdessen weiter an einem liberalen und sozialpartnerschaftlichen Modell der Bundesrepublik, das unter den Bedingungen der Blockkonfrontation als Schumachers Magnetfunktion entstand. Dieser sozialpartnerschaftliche Kompromiss war nicht mehr als ein Ausdruck der Machtverhältnisse bis 1990. Aber die Zeit der Systemkonkurrenz ist vorbei, die Sozialpartnerschaft Geschichte und die bürgerliche, antifaschistische Verfassung von 1949 ein Klotz am Bein der herrschenden Politik. Es ist kein Zufall, dass politische Einschränkungen für die lokale Durchsetzung der Neuen Weltordnung nur noch von Verfassungsrichtern kommen. Dagegen empfehlen Leute wie Herrfried Münkler folgende Linie: Die Politik müsse das Selbstbewusstsein haben, strategisch notwendige Reformvorhaben gegen aktuelle Stimmungen in der Bevölkerung durchzusetzen. Und weiter am Beispiel der Auslandseinsätze: Imperiales Agieren dürfe nicht von vornherein als schlecht und verwerflich wahrgenommen werden, sondern als eine Form von Problembearbeitung.
Die Konsensdemokratie ist Makulatur und es ist keine politische Kraft in Sicht, die soziale und staatsbürgerliche Grundrechte in einer „Dissensdemokratie“ gegen die Interressen der Mächtigen durchsetzen könnte.

Malte Daniljuk arbeitet als freier Journalist und in Projekten zu Venezuela und Mexiko.



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