telegraph #109
Schreibware
WENN DIE EULE SCHLAFEN GEHT

Peter Wawerzinek

Drogen kennen keine Zeitbeschränkung, keinen Winterschlaf. Drogen suchen die Berührung rund um die Uhr. Wir saufen zu viel. Wirklichkeit heißt, im Winter sind wir weniger aktiv. Das ist nun mal Fakt. Willkommen in der Wirklichkeit, sagt der Abschied vom Rausch. Wir sind so lange auf den Beinen, am Kneipentisch, bis wir in den Beinen einknicken. Wir riskieren viel. Wir haben Freunde verloren, Jobs und wir werden weitere Jobs und Freundschaften aufgeben müssen. Die Stadt in der wir hausen, ist ein böser Moloch, ein Feuerwassersalamander. Die Menschen in der Stadt sind unerträglich, seit wir denken können, und es läuft ohne Vorschuss ab. Unerträglich ist das Fernsehpro­gramm und es wird noch blöder, dämlicher. Soviel ist nun mal gewiss. Unerträglich sind die Wahlergebnisse, die Politik ist fürchterlich geworden. Es gibt Superstars, Börsenbewegung, Krieg und Hunger, Kinderarbeit und blöde Weiber auf Titelseiten. Das alles kommt immer näher, rückt immer weiter vor, frisst an den Rändern unserer Existenz. Es gibt wenig Hoffnung und einen Haufen Trickbetrüger. Manchmal ist ein Tag, ein Jahr, ein Jahrhundert so belanglos, dass man besser gar nicht rausgeht, gar nicht eintaucht, sondern brav die Pulle greift, sich zuschüttet bis zum Umkippen, bis zum Vergessen.

Einst wirklich mal gut gewesene Menschen, sind so krank wie die Gesellschaft, handeln plötzlich im gleichen globalen Wahn, gründen Kneipen und werfen die Säufer zur Tür hinaus, wenn die Säufer bei ihnen reichlich gesoffen und Schmott geblecht haben und abgefüllt sturzvoll sind und nichts mehr schlucken können. So harte Menschen sind ehemals gute Menschen durch ihre Kneipen geworden, dass sie nicht mal mehr lachen können, nichts zu lachen haben.

Ich gehe mitunter mit so viel Wut im Bauch durch die Straßen, dass man mich allgemeingefährlich schimpfen soll. Ich könnte die Heinis reihenweise am Kragen packen und zum Stadtrand hinaus über Kopfstein zur Mülldeponie schleifen, so satt bin ich mitunter von den Leuten um mich herum, dass ich die Stadt verlassen muss, Hals über Kopf nichts wie weg, ehe was Schlimmes passiert und ich ein Massaker anrichte.
Ich reiße Richtung Norden aus, verkrieche mich hinterm Elbdeich in die kleine Schreibbude von Wewelsfleth, die mir Gerd Gedig zur Verfügung stellt. Der ist einer von den raren Menschen, 68er und überhaupt nicht mit den Genossen zu vergleichen, die längst Verlage, Fabriken, Häuserreihen gekauft haben, dicke tun, ewig den selben Scheiß labern, von der RAF, von den Popfestivals, von den besetzten Häusern, dem Straßenkampf, dem was draus wurde, nämlich Immobilien und Außenminister, die sich als teuflisch gute Weinkenner geben, junge Frauen knipsen und in ihren Schreibtischen ein Schnupftuch mit Che Guevarabild liegen haben.
Gerd tut Gutes. Und Gutes tun ist heutzutage fortschrittlich zu nennen. Hilfe ist angebracht. Helfer sein heißt heutzutage Revolutionär sein. Ich bin, wenn ich bei Gerd bin, weg von der blöden Stadt, den blöden Städtern, ihren blöden Events und Russendiskos, weg vom Suff, dem ich verfalle, wenn ich die Blödheit der Städter atmen muss. Weg von den ekligen Geldma­chern, den blöden Generationsbücher­schrei­bern, den Mädchenwundern, den immer blöder werdenden Mitmenschen. Ich tue Gutes. Ich nehme mir den Hund meiner Freundin mit, dass der mich raus treibt, über die Kimmen der Deiche, ans kleine Hafenbecken. Die Freundin ist entzückt, über so viel Gutes, das ich ihr antue. Sie kann ihre Freundinnen besuchen, Weiberkram erledigen. Ich kann über die Kuhfelder, über die Schafsweiden latschen und kann die Einheit, den Mauerfall, die neuen Biersorten, den neuen deutschen Film, das verblödete Theater, die Kultur verhindernden Kulturför­der­ins­ti­tu­tionen, die Kürzungen generell, das neue Ur­herberecht vergessen. Ich laufe auf ein landesweit bekanntes Atomkraftwerk zu. Es sieht im Abendlicht wie eine entzückende Märchenmoschee aus.

Ich trinke zum Abend zwei Glas Wein oder Bier. Ich koche für mich und den Gerd Kohlrabi und brate Fleisch. Es tut gut, gut zu sein. Ich schleppe Kuchen in Gerds Büro. Ich besuche Lore, die dauernd rülpst, besuche Max, der gut beieinander ist, 73 Jahre und Flugenten großzieht. Ich suche Robert heim, der mich nicht rein lässt, weil Robert wieder mal sterben will, die Haare wachsen lässt und mit einem Stöckchen aufs Sofa einschlägt. Ich begleite die Hannelore, die ihr Klappfahrrad mir zu liebe schiebt zum Döblinhaus, wo der Grass den Butt fabriziert hat.

Ich bin unter Schafen. Ich meide die Eckkneipe, weil da ausländerfeindliche Sprüche geklopft wurden. Ich bin an der Frischluft. Ich schlafe gut. Ich bin zeitgleich mit Gerd erwacht. Wir springen in die Klamotten, vollführen Katzenwäsche, putzen die Zähne so flugs es geht, brechen zu Gerds Büro auf, weil ich immer schon mal wissen wollte, wie der Tag auf seinem Eulenhof so beginnt.
Dichter Frühnebel hüllt den Ort ein. Aus dem Gemisch von Dunst und Morgengrauen hervor taucht ein schwankendes Licht auf, das zu Ottos Drahtesel gehört. Otto ist der fahrraduntersetzte Schimmelreiter dieser norddeutschen Gemeinde, fährt immer 10 vor 6 Uhr an unserem Haus vorbei, sagt Gerd und fummelt mit dem falschen Schlüssel an der Eingangstür herum, sagt: Wenn ich Otto verpasse bin ich spät dran, sucht und findet den richtigen Schlüs­sel, spricht unbeirrt weiter: Treffen wir uns zeitgleich vor dem Haus, ist alles gut. Würde Otto eines Tages nicht 10 vor 6 mit seinem Fahrrad auftauchen, wäre Otto tot, sagt Gerd, mag gar nicht dran denken.

Kaum ist der Lichtschalter betätigt, steht Jochen, der notorische Frühaufsteher im Raum. Der ehemalige Bergmann Jochen hat von Natur aus ein anderes Verhältnis zu Helligkeit, Finsternis, Frühe und die kalte Unendlichkeit. Als hätte er auf seinen Einsatz gewartet, schüttelt Jochen Maschinenkaffee aus dem Ärmel.

Während des ersten, vorsichtigen Schlucks schaut Karl-Heinz, ein Kraftfahrer des Be­triebshofes herein. Ich stehe jeden Tag um Halbfünfe auf, sagt er mit einer jeden Morgenmuffel verstörenden lauten Stimme. Auf dem Kopf von Karl-Heinz prunkt eine Sportmütze mit dem Logo von Energie Cottbus, die ihn als Cottbusfan ausweist, auch wenn er die Mütze auf einem Sportmützenmarkt erworben hat.

Da kannste nichts machen, das ist mal halt so, sagt er zu Cottbus und seiner Leidenschaft, schnappt sich die Autoschlüssel und wird: Ich sage mal zwischen halb Siebene bis um Neune Uhr arbeitswillige Menschen zu deren Beschäf­tigungsbereiche fahren.

Arbeit, lobt Karl-Heinz im Weggehen, ist für unsereins die höchste Lebensform. Wer arbeitet, bleibt innerlich stabil, sagt er und schaut mir einige Sekunden lang fest in die Augen.
Von Nebel umrahmt lugt ein dicker Mann zum Fenster hinein. Der Dicke guckt jeden Morgen zur Scheibe herein, um zu sehen, ob hier drinnen schon Licht brennt, witzelt Gerd.

Nein, nicht doch, korrigiert er sich rasch, der will mal eben seine Wäsche ins Waschhaus bringen, guckt ob die Tür zum Waschhaus offen ist.
Heiko, heißt der Kraftfahrer Nummer zwei. Heiko grüßt in nordischer Gelassenheit, lässt sich 3,65 Euro Zeitungsgeld retour aushändigen, nimmt den Zweitwagenschlüssel vom Schlüs­selbrett, verlässt den Raum auf leisen, festen Sohlen.

Für Gerd, dem Chef vons Ganze, stehen in der Folgezeit folgende Pflichtaufgaben an: Tagesgelder für seine Equipe, die alltägliche Dinge wie Zigaretten, Batterien, Süßigkeiten erwerben will, bereitstellen. Neben diesen Summen, notwendige Barschaft für die Verwaltung, die Lieferanten, den anstehenden Großeinkauf vorschießen. Sämtliche Bündel per Büroklammer und Zettelnotiz über Höhe und Ver­wendungszweck kennzeichnen und auf dem Schreibtisch auslegen.

Wir sind gerade mal 19 Minuten im Büro. Wir rauchen bereits jeder die dritte Zigarette. Keine unserer morgendlichen Zigaretten ist uns wirklich bewusst geworden, sage ich, richtig genossen haben wir sie alle nicht.
Dem Morgenkaffee von Gerd geht es nicht viel besser als unseren Lullen.

Gerd Unruheherd nimmt einen Schluck am Kühlschrank, ist zugleich am Faxgerät, füllt synchron mehrere Lohnbescheinigungen aus, nippt Kaffee, kopiert drei Schreiben, will endlich Kaffee schlürfen, ist am Telefon, stellt die Tasse ab, redet kurze bündige Formeln, sagt: Ja­sicher, Kein problem, Wirdgemacht, Gehtinordnung. Schon verfasst er eine E-Mailantwort, liest Briefe, nimmt die Tasse, stellt die Tasse von dort nach da, blickt entgeistert auf ein Zeitungsfoto, ist mit der Zeitung zum Aufent­haltsraum unterwegs, belässt den Kaffee halb angerührt in seiner Tasse.

Vom Aufenthaltsraum zurückgekehrt, tippt er an seiner Schreibmaschine Twen t 180 von Triumph-Adler eigenhändig und flink einen Antrag betreffs irgendeiner Kostenverlängerung, verschafft er sich nebenbei Überblick im Ereignisbuch.

Irgendwann plötzlich, fällt ihm der Kaffee ein, der ausgekühlt in seiner Tasse rumsteht und von ihm in einem Zuge weggeputzt wird. Nach dem Ruckzuckkaffee wird die grobe Tagesplanung entworfen, was wann und in welcher Wichtigkeit anliegt, welche Treffs zu erledigen sind.

Zudem hat sich ein Praktikant angemeldet.
Es ist 6 Uhr 48. Bei Edeka gehen die Rollos empor. Der Wäschewaschmann eilt in die Waschküche, beginnt seinen Wäschewaschküchenalltag. Eine Frau namens Ingrid erscheint. Ingrid trägt schulterlanges Hennahaar zu Zöpfchen geflochten, eine Baseballmütze mit der Aufschrift Speed, ist richtig gut drauf und spricht von ihrem mächtigen Muskelkater, weggeholt bei der gestrigen Gartenschufterei für Doktor Soundso.
Kollegin Kristina erscheint im Büro. Sie ist schön und übernächtigt. Sie begnügt sich mit einem kurzen Morgengruß. Sie setzt sich an den Schreibtisch, kontrolliert Gelder, überträgt Zahlen in ein Kassenbuch. Dann bekommt sie einen Weckanruf, der, wie sie müde lachend sagt, nun wohl denn doch nicht mehr von Nöten ist. Sie ruft zu Hause an, dass eines ihrer beiden Kinder pünktlich zur Schule kommt. Essen steht in der Küche, sagt sie mehrfach und im Tonfall ansteigend, schließt schließlich das Gespräch mit: Deichmuss und einem mütterlichen Schmatzkusstschüß ab.

Beim Fotokopieren von Lohnabrechnungsbelegen für die amtliche Wohngeldstelle, läutet das Telefon Sturm. Dem Kind ist eingefallen, dass es heute nicht zur ersten Stunde in die Schule gehen braucht. Das Kind fragt an, wie bitte sehr es sich bis dahin beschäftigen soll. Die Mutter sagt: Lassdirwaseinfallen und legt auf.

Bis hierher, denke ich, ist der Tagesbeginn in diesem kleinen Nordlichtbüro ein jeder anderen Institution gleichzusetzender Arbeitstagseinstieg, würde da nicht plötzlich die gute ­Car­men aufgetaucht sein, und sich das Alko­holüberprüfungsgerät geschnappt haben und spitz: Für unsere speziellen Kandidaten, gesagt haben. Carmen bietet mir an, mich auch mal kontrollieren zu lassen. Ja, natürlich lasse ich mich testen. Ich habe Jahrzehnte nicht mehr in ein Pusteding blasen sollen.

Ich tanke Luft. Ich blase ins Rohr. Ich bekomme die von mir vorhergesagte 0 Komma 0 Promille bestätigt. Ich wäre in diesem Heim ein wirklich ausgezeichneter Patient, sagt Carmen anerkennend.
Ich therapiere mich selbst. Die Stadt hat mich satt gemacht, die Leute haben mir den Spaß am Saufen verübelt. Die Politikerfressen sind meine Trinkerheilmaßnahme. Die schlechten deutschen Bücher sind das Brechgefühl, das aufkommt, wenn ich an ihre Autoren denke, daran, dass sie daherkommen und mit mir anstoßen wollen.

Der Morgen graut. Die Nachteulen werden schlafen gehen. Der Tag auf dem Eulenhof läuft auf vollen Touren, bevor der Tag in Wewelsfleth anbricht.

Peter Wawerzinek ist Schriftsteller, er lebt in Berlin und zeitweise in Wewelsfleth,
wo er Archivar eine Resozialisierungseinrichtung Namens Eulenhof ist.



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