telegraph #109
DER STREIK UND DIE SCHLEICHENDE FASCHISIERUNG

Hans-Jochen Vogel

Die IG Metall wollte im letztem Sommer in Ostdeutschland einen neuen Flächenta­rif­vertrag mit der Festschrei­bung des Übergangs zur 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, auf Westniveau, erstreiken. Sie ist damit gescheitert. Vorzuwerfen ist ihr nicht ihr Ziel, das vernünftig und gerecht war, sondern dass sie die Mächte unterschätzt hat, mit denen sie sich anlegte. Bei allen Zeichen von Soli­da­risierung westdeutscher Kolleginnen und Kollegen an der Basis war doch die bis zur offenen Ablehnung reichende Unlust einiger Gewerk­schaftsfunktionäre im Westen deutlich, sich den Streikenden im Osten an die Seite zu stellen. Logisch wäre ein gesamtdeutscher Streik zur gesamtdeutschen Durch­setzung einer Regelung gewesen, die somit nun ein westdeutsches Privileg bleibt.
Warum blies Herr Zwickel den Streik so plötzlich ab? Warum wird hinterher der gegen Zwickels Willen zu seinem Nachfolger gewählte eher der Gewerkschaftslinken zuzurechnende Jürgen Peters zum Sündenbock gemacht und neben ihm Bezirksleiter Hasso Düvel an den Pranger gestellt?

Natürlich kann man das Scheitern des Strei­ks als Folge von Fehleinschätzungen der Lage und Stimmung in Ostdeutschland und somit auch der Distanz zwischen einer abgehobenen Funktionärsebene und der Basis in Gewerkschaft und Betrieben interpretieren. Aber hat es da wirklich keine Absprachen und Zusicherungen zwecks Unterstützung des Streiks gegeben? Sind solche Verständigungen, sollten sie bestanden haben, dann eingehalten worden? Hat da nicht jemand jemanden an die Wand laufen oder im Regen stehen lassen? Sieht dies nicht ganz nach einer Intrige aus? Sollte hier der durch ihre Politik des Sozialabbaus und Gesellschaftsabbruchs in eine Legi­timationskrise geratenen Regierung Schröder beigesprungen werden? Sollte in einer Zeit, in der sich eine neue weltweite kapitalismuskritische Bewegung herausbildet und bei Gewerkschaften und Gewerkschaftern Verbündete sucht und findet, ein deutliches Haltesignal gesetzt werden? Gewerkschaft als Trans­missions-Riemen einer dem Namen nach sozialdemokratischen Partei der neoliberalen Kon­ter­revolution - ja! Als selbstbewusste Ver­tre­terin der Interessen der abhängig Beschäftigten und der Erwerbslosen und Benachteiligten - nein!
Es wird sich herausstellen, ob der hochgespielte Unterschied zwischen dem ja nun doch zum Vorsitzenden gewählten Peters und seinem Stellvertreter-Rivalen Huber real so groß ist, wie es die Medien trompetet haben. Und selbst wenn: die Machtverhältnisse in der hierarchisch durchstrukturierten Gewerkschaft sind nicht so, dass sie einen Kurs des ernsthaften Konflikts mit der Regierung ermöglichen würden. Es sei denn, die Basis stünde auf... Aber wer ist denn das nun wieder: die Basis. Je größer der Betrieb, desto höher der gewerkschaftliche Organisierungsgrad der Belegschaft. Aber eben diese Belegschaft ist doch in den Großunternehmen vor allem im Westen mit ihrer Wirtschaftskraft viel besser versorgt als in den kleineren und kleinen Betrieben. Einkommen, Arbeitszeitregelungen und besondere Vergünstigungen liegen da in der Regel über den Flächentarifverträgen. An der Erhaltung ihrer Privilegien sind sie natürlich interessiert. So ergibt sich ein dichtes Interessengeflecht zwischen Unternehmensleitung, Gewerkschaft und der normalerweise mit im Boot sitzenden SPD. So hat sich auch die IG Metall weithin zu einem Interessenvertreter der Konzerne entwickelt. Dass allerdings, wenn sie Niederlagen einsteckt, auch jene, die sich von ihr nicht oder nicht ausreichend vertreten sehen, nur verlieren können, ist die andere Seite einer widersprüchlichen Realität.

Im Bermuda-Dreieck von westdeutschen Konzern-, Gewerkschaftsfunktionärs- und SPD-Macht­erhaltsinteressen versanken die der ostdeutschen Lohnabhängigen. Im Westen vermag das Machtkartell offenbar einen ausreichenden Teil vor allem der Belegschaften der großen Unternehmen noch hinlänglich zufrieden zu stellen. So entstand nicht der nötige Druck, um auch dort Kampfbereitschaft zu erzeugen. Dass im Osten auch über ihre Zukunft mitentschieden und ihre Gewerkschaft ins­gesamt vorgeführt wurde, ist inzwischen vielen bewusst geworden. Ihr Zorn über das Verhalten von Funktionären, die den ostdeutschen Kollegen in den Rücken gefallen sind, wird hof­fentlich nicht ohne Folgen bleiben.

Die Art und Weise, wie der Streik abgewürgt wurde, zeigt jedoch, wie weit die Entwicklung in diesem Land bereits in die Richtung einer schleichenden Faschisierung vorangetrieben worden ist.
Fast unisono wurde aus allen Medien gegen den Streik und die Streikenden gehetzt. Regierende und noch nicht regierende Politiker, die als mögliche neutrale Vermittler ein ausreichendes Maß an Neutralität bewahren sollten, betätigten sich ohne Zeichen von Scham und Hemmungen als Sprachrohre der Kapitalinteressen. In der Presse und den elektronischen Medien wurde den ohnehin nicht durch intellektuelles Niveau verwöhnten Konsumenten in allen Variationen eingebläut, wie verantwortungslos und destruktiv der Streik doch sei. Kein Argument war dabei zu dumm, keine Begründung zu schamlos. Ob man nun den Leuten weiszumachen versuchte, dass längere Arbeitszeiten bei den Noch-Arbeitsplatzbesitzern zu mehr Arbeitsplätzen führen würden, oder dass Einkommensverzichte Wirtschaftsaufschwung bewirken, oder ob man den Streikenden einzureden versuchte, dass sie mit ihrem Streik nur der Erhaltung des Status Quo bei ihren wohlhabenderen Westkolleginnen und -kollegen dienten (anders gesagt: Wollt ihr denn nicht, dass es denen auch einmal schlechter geht?).

Und es funktionierte: Bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung im Osten wurde überlegt und systematisch eine Pogromstimmung gegen die Streikenden erzeugt. Beschimpfungen und Stinkefinger gegen die Streikposten. Öffentliche Bekundungen der Streikgeg­ner­schaft zugunsten des „Standorts Ostdeutschland“ oder „Sachsen“, wurden organisiert. In Südwestsachsen betätigten sich Bürgermeister einiger Städte, unter anderem einer der PDS; mit viel Medienrummel als Streikbrecher. Die Gewerkschaft will den Ostdeutschen ihren einzigen überzeugenden Standortvorteil nehmen: dass sie für weniger Geld mehr arbeiten dürfen - wie heimtückisch! Die Frage, ob nach eben der Logik, die dabei zur Anwendung kommt, nicht schon heute auch der „Standort Ost­deutschland“ längst durch die Wanderung des Kapitals weiter nach Osten hinfällig wird, wird dabei verdrängt (inzwischen werden, wie man hört, selbst streikende Arbeiter in Tschechien mit dem Abzug des Kapitals in Richtung Ukraine bedroht). Unsicherheit und Existenzangst machen viele Menschen geneigt, auch den größten Unfug als einen Strohhalm zu akzeptieren, an den man sich klammern muss, will man noch Hoffnung haben, nicht unterzugehen. Wertvorstellungen und moralische Maßstäbe sind durch den langjährigen Genuss etwa von „Bild“ und anderer bunter Blätter, sowie der Gehirnwäsche durch die elektronischen Medien, aber auch durch die in den Alltagsvollzügen materialisierte Ideologie verwirrt und zersetzt.
Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, sollen demontiert werden. Stellen sie doch die einzige gesellschaftliche Kraft dar, die noch in der Lage ist, Menschen gegen die Zumutungen der neoliberalen Gesellschaftszer­störung zu mobilisieren und Widerstand zu bündeln.

Was bliebe, wäre eine neue Volksgemeinschaft mit einer neuen deutschen Arbeitsfront, in der Kapital und Arbeit gemeinsam für den Standort kämpfen, d.h. real: die noch zum Ausgebeutet-Werden Zugelassenen für den Profit ihrer Herren. Der Betriebsführer würde dann seine Betriebsgemeinschaft - zu deren Wohl, versteht sich - führen, ohne dass ihm eine Gewerkschaft hineinredet und durch unangemessene Forderungen „Klassenzwiespalt“ schürt. Gemeinnutz ginge dann, wie schon einmal, vor Eigennutz - wobei der Gemeinnutz von den Herrschenden verkörpert, die Interessen der Beherrschten aber als schnöder Eigennutz abqualifiziert würden. Böte dies nicht eine hervorragende Voraussetzung für die Formierung des „Volkes“ zur kämpfenden Truppe im Welt­ord­nungskrieg. Die Multiplizierung und Verfeinerung der technischen und administrativ-juris­dischen Mittel zu Überwachung, Kontrolle und Repression würden es erlauben, dieser Form der totalen Herrschaft ein wesentlich gefälligeres Aussehen zu verleihen als sie dem alten Faschismus eigen war. Wenn es dahin nicht kommen soll, ist Widerstand in größerer Breite nötig, als bisher erkennbar ist.

Angezeigt ist allerdings dann auch eine Selbstprüfung der Gewerkschaften. Die Zeiten sind vorbei, in denen auf den Wohlstandsinseln der westlichen Industriestaaten Gewerkschaften sich damit legitimieren konnten, dass sie für ihre Klientel jeweils ein größeres (wenn auch verhältnismäßig kleineres) Stück aus dem stän­dig wachsenden Wohlstandskuchen erstreiten konnten. Das Modell unendliches quan­titatives Wachstum, Massenproduktion, Mas­senkonsum plus Sozialstaat bewirkte für einen Teil der Menschheit gesellschaftliche Integration und Befriedung. Die Fragen nach der Verfügung über die Produktionsmittel, nach dem Eigentum und der Macht, konnten vorübergehend ruhiggestellt werden. Diese Zeit der Gemütlichkeit scheint sich unter dem Druck der Ökologie und der Demographie, aber letztlich durch das Erreichen der inneren Grenzen des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodells, ihrem Ende zuzuneigen. Grundlegendere Veränderungen werden nötig. Gerade dem Kampf um Ar­beits­zeitverkürzung kommt dabei eine wichtige Funktion zu.
Es steht eine Menge auf dem Spiel. Wer aber soll verhindern, dass die herrschende Klasse den Ausweg aus der Krise wieder in einem autoritären Herrschaftssystem und in neuen Kriegen sucht? Es könnten nur die, die dafür mit ihrer Haut zu zahlen hätten. Wie aber sollten sie es können, wenn ihre Möglichkeiten sich zu organisieren entmachtet und am Boden zerstört würden?

Hans-Jochen Vogel ist unter anderem aktiv in der "Arbeitsgemeinschaft Offene Kirche (AG­OK) Sachsen", er lebt in Chemnitz.



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