telegraph #109
Kolumne
DIE HOFFNUNG AUF VERÄNDERUNG

Warum die nötige Anzahl Buchstaben in der richtigen Reihenfolge noch lange keinen Protest erzeugt

Christoph Villinger

„Eigentlich müssten ...“ ... Millionen von Arbeitslosen auf die Straße strömen, und gegen die neuen Hartz-Gesetze protestieren. Wenn nur die Hälfte der perspektivisch direkt betroffenen 300.000 Berliner Arbeitslosen für einen Vormittag zum Bundestag ziehen würde, wäre Hartz III und IV verhindert. Denn selten gab es ein Gesetz, dass so offensichtlich gegen die materiellen Grundbedürfnisse eines Teils der Bevölkerung gerichtet ist.

Tun sie aber nicht! Obwohl sich unzählige linke Initiativen emsig bemühen. Immer noch dem Irrglauben verfallen, man müsse „die Bevölkerung“ nur mit der nötigen Anzahl Buchstaben in der (scheinbar) richtigen Reihenfolge versorgen, werden Flugblätter in Millionenauflagen gedruckt und verteilt. Doch dann kommen vielleicht 100, manchmal 200 Leute zu den Aktionen gegen die Hartz-Gesetze, ob sich der Erfolg der Demonstration am 1. November in Berlin wiederholen lässt bleibt fraglich.

Woran liegt dies, lautet die spannende Frage. Vor allem daran, weil es Schröder und Co gelungen ist, die Position der Veränderung und Dynamik zu besetzen. Dagegen setzt ein Großteil der Gewerkschaften und der meisten linken Gruppen nur eine Kritik, die strukturell konservativ ist: Alles soll so bleiben wie es ist. Dabei spüren die Menschen genau, dass dies nicht mehr geht. Der prinzipielle Veränderungswille ist viel größer, als die linken Initiativen denken. Nur auf ihre Konzepte und Ideen hören die wenigsten. Insbesondere leidet „die Mehrheit“, die nie gelernt hat kreativ mit der Erwerbslosigkeit umzugehen, schwer unter der eigenen „gesellschaftlichen Überflüssigkeit“. Auch in „unserem“ alternativen Milieu fand in den letzten Monaten und Jahren ein Stimmungsumschwung statt. Inzwischen sind viele froh, wenigstens einen Job zu haben. Der Neoliberalismus stellt richtige Fragen, nur beantwortet er sie völlig falsch.

Indem aber die Linke nicht einmal diese Fragestellungen zulässt, manövriert sie sich selbst ins Aus. Schröder und Co bieten wenigstens die Hoffnung auf Veränderung an. Zwar kommen auch aus „unserem“ Milieu viele gute Ideen, die auf Veränderung setzen. Zum Beispiel die Idee der Grundsicherung für Alle. Doch diese Ideen spielen in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle, weil sie quer zum Plan der Durchsetzung einer neuen kapitalistischen Produktivität liegen.

Vielmehr bauen die Medien die Gewerkschaften als einzigen Gegenspieler auf, und weiden sich genüsslich an der Falle, in der diese stecken: einerseits Interessenvertreter ihrer zahlenden Mitglieder zu sein und deshalb andererseits keinen Raum für einen eigenen gesellschaftlichen Entwurf zu haben. Beispielsweise weis jeder Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst, dass etwas grundsätzlich geändert werden müsste. Nur eben bei ihm nicht. Dieser innere Widerspruch führt dazu, dass die Beteiligung bei Protestaktionen der Gewerkschaften gegen den Stellenabbau im Öffentlichen Dienst so gering ist. Und die Interessen eines Metallarbeiters, der Arbeit hat, sind notgedrungen nicht die gleichen wie die der Arbeitslosen. Zudem lernt man in Deutschland selten, direkt für seine eigenen materiellen Grundbedürfnisse einzutreten, und seine Arbeitslosigkeit nicht als individuelles Schicksal, sondern als kollektive Situation zu erkennen und daraus den Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aufzunehmen.
Selbst Arbeitslose referieren, dass der Staat ja kein Geld mehr habe, und man deshalb mit 345 Euro plus Miete im Monat auskommen müsste. Die Frage aber, warum jemand mehr als 5.000 Euro im Monat verdienen muss, wird nicht gestellt.

Falls es überhaupt zum Protest kommt, richtet sich dieser immer noch an die Vermittlungsinstanz Staat. Der aber zeigt seine objektiv leeren Taschen.
Die allseitige Lähmung ist perfekt.

Bleibt am Schluss die Frage, was tun? Natürlich ist es richtig, weiter gegen die Hartz-Gesetze zu kämpfen. Aber wir werden wenige bleiben. Dies wird sich erst ändern, wenn es wieder nach vorne gerichtete Ideen mit der Aussicht auf Erfolg gibt. Und zugleich gilt es, sich auf die Kämpfe der kommenden Jahre vorzubereiten: Mehr Lohn, weniger Arbeit - ein schönes und bequemes Leben für Alle.

Christoph Villinger lebt und arbeitet in Berlin.



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