telegraph #109
Kultur
OBJEKT RAF
Jürgen Schneider

»RAF!« brüllten einige Herrschaften ins Sommerloch. Und prompt ertönte ein Widerhall aus Ressentiments, sattsam bekannten Denunziationen und Geschichtsverdrehungen sowie Treue­ge­löbnissen auf den Staat, der doch die Konzentration aller Gewalt ist. Der Anlass: Die Kunstwerke Berlin (KW) planen eine Ausstellung. Arbeitstitel: »Mythos RAF«. Das Wort Mythos verwies zwar darauf, dass es nicht um die RAF als einstige Stadtguerilla gehen soll, sondern um das zur Legende Gewordene, um die über sie existierenden Sagen und Märchen, recht eigentlich um ihre Popkulturalisierung. Was aber kann die RAF dafür, dass die Düssel­dorfer Damen der Hochglanzpostille Tussi Deluxe (Heft 3, März 2001) eine »RAF-Parade« präsentierten und fragten: »Wie sieht die Generation, die Ende der 60er das Licht der Welt erblickte, die Aktionen der RAF? Darf es sein, das spielerisch mit deutschem Erbgut umgegangen wird?« Was kann die einstige RAF dafür, dass einige des Zeichenlesens Unkundige in einem fünfzackigen roten Stern auf einem T-Shirt die popkulturelle Aneignung der RAF sehen wollen? Wollen die etwa auch behaupten, es sei RAF-Werbung, wenn für das Literaturprogramm der Berliner Festspiele zur Ausstellung »Berlin-Moskau/Moskau-Berlin 1950-2000« mit einer Gazeta Kalaschnikow geworben wird, eine Abbildung des international bewährten Schießgerätes inklusive? Nebbich!

Als Berater der KW-Schau war der am Hamburger Institut für Sozialforschung wirkende Historiker Wolfgang Kraushaar im Gespräch. Die Bundeszentrale für politische Bildung sollte die Ausstellung mit einem Programm begleiten. Als jedoch die Familie Schleyer und die Witwe von Detlev Rohwedder sich bei Bundeskanzler Schröder über einen Satz aus einem nicht-offiziellen KW-Papier beschwerten, den sie als Beleg für eine beabsichtigte »Glorifizierung« der RAF hielten, und die Nichteinbeziehung der RAF-Opfer beklagten, brach ein Sturm los im Blätterwald, der ganz selbstverständlich über die Opfer der staatlichen Killfahndung hinweg ging. Plötzlich sollte eine Kunstausstellung leisten, was dreißig Jahre vermeintliche RAF-Aufarbeitung nicht vermochten: ein ebenso »objektives« wie »abgerundetes« Bild über die Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat zu liefern.

Der frühere Berliner Kultursenator und langjährige Direktor des Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzl, bewies mit seiner im Tagesspiegel (02.08.03) getroffenen Feststellung, es fehle »für eine Ausstellung an greifbaren Objekten (...) Was soll da gezeigt werden?« nur, über wie wenig Qualifikation einer verfügen muss, um hierzulande an kulturpolitisch entscheidender Stelle zu wirken.

Der Filmemacher Andres Veiel (Black Box BRD) konstatierte, eine Ästhetisierung und Fiktionalisierung des Phänomens RAF und ihr Widerschein in der Kunst setzten eine genau erstellte »faktische Kartographie« voraus. Besteht die in Sätzen wie dem folgenden? »Auch Andreas Baader ist nicht nur ein Menschen verachtender Killer.« (Tagesspiegel, 26.07.03) Kaum. Wer im bürgerlichen Feuilleton ernst genommen werden will, demonstriert an geeigneter Stelle, dass er kein sogenannter »Sympathisant« der RAF war oder gar noch ist, und schreibt seine Distanz fest. Andreas Baader hatte im Übrigen etwas gegen die viel geschmäh­ten »Sympathisanten«. Sie waren eben nur dieses: Sympathisanten.

Diedrich Diederichsen schwadronierte 1985 in seinem Buch Sexbeat: »Das Weiter in der Politik war zum einen ein Fortschreiten von Kampfformen – von der Protestversammlung über die illegale Demo zur bewaffneten Stadtguerilla – zum anderen war es das Mehr.« Das Weiter und Mehr des Autors jener Zeilen, der sich eher zu den neo-leninistisch auftrumpfenden Aufbauorganisationen maoistischer Prägung hingezogen fühlte, und der seither noch jedem Zeitgeistpopanz etwas abzugewinnen wusste – »Wir wechselten in halbjährigen Abständen Weltanschauung und Musikgeschmack« – ist auf dem langen Weg nach Mitte zu einem naiven Appell an die rot-grünen Politikanten geschrumpft, die den Stahlhelm längst wieder zur Grundausstattung des Untertanen gemacht haben: »Wenn es für eine staatsfeindliche Position gute Gründe oder auch nur ein Interesse gibt, dann muss staatliche Kulturpolitik dazu beitragen, dass sie gehört und diskutiert werden kann. (Das soll nicht heißen, dass ich der Meinung bin, für die Aktionen der RAF hätte es gute Gründe gegeben.)« (Tagesspiegel, 05.08.03)

Diederichsen betrieb zudem noch ein wenig Namedropping, um einige seiner Künstlerfreunde als Mythos-RAF-ausstellungstauglich, also als »Experten für die sinnliche Dimension von Politik (oft die Kompensation politischer Mängel qua sinnlicher Freuden a.k.a. Dekoration)« zu empfehlen.
Christian Semler, einst Kader der KPD/AO, einer Geschäfts- und Werbeagentur in Sachen richtiger Linie, der sich heute als elder states­man der tageszeitung gibt, plädierte für eine Vorgehensweise, die in seinem Blatt ebenso wenig umgesetzt wird wie in anderen Medien. Jeder Lifestyle-Idiot, jedes Lead-Magazin der Entertainment-Economy fabuliert lieber über die Samthosen von Andreas Baader. Man könne, so Semler, »die RAF nur dann mit Aussicht auf Wahrhaftigkeit ihres Heldenstatus entkleiden, wenn man die Mehrzahl ihrer Laster, also ihre Selbstüberhebung, ihre angemaßte Avant­gar­de­rolle, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Würde und Leben des ›Klassenfeindes‹ auch im Milieu der radikalen Linken jener Zeit ausmacht, wenn man keinen Abgrund zwischen der radikalen ›legalen‹ und der terroristischen Linken konstruiert. Hier heißt Historisierung und Entmys­tifizierung aber auch, die damaligen gemeinsamen Motive des antiimperialistischen Kampfes zu bezeichnen, ihre Legitimität zu untersuchen, ihre Wirksamkeit darzustellen und den Spuren ihres Fortlebens nachzugehen.« (taz, 04.08. 03) Semler täte gut daran, diese Aufgabenstellung einmal seiner Chefredakteurin ans rot-grüne Herz zu legen.

Eine Auseinandersetzung, die der historischen Bedeutung der RAF gerecht zu werden suchte, müsste weitreichender sein, hätte sich der Fragen anzunehmen, die der Historiker Karl Heinz Roth bereits 1979 formulierte: »Warum gingen Massenbewegung und Stadtguerilla aus­ei­nander? Warum kam es zum Bruch? War er wirklich unvermeidlich? Gibt es historische Lehren, die den Heroismus der RAF angesichts der Borniertheit der ›legal-marxistischen‹ Interpreten einer seit Anfang der siebziger Jahre doch erst in die Breite gehenden Massenbewegung teilweise rechtfertigen? Wo hat, um es zugespitzt zu formulieren, die RAF recht gehabt, und nicht wir; und wo lag sie, die Trennung von der Massenbewegung von sich aus beschleunigend, falsch? Wo sind die Ansatzpunkte, von denen aus versucht werden könnte, den schlei­chenden Auflösungsprozess einer weitgehend entwaffneten und demoralisierten linken Szene auszuhalten?« (Karl Heinz Roth, Moral, Gehirnwäsche und Verrat, in: Klaut sie! – Tübingen: iva-verlag, 1979, S. 50 ff.) Niemand, so Roth, habe damals innerhalb des legalen-halblegalen Spektrums der neuen Linken selbstkritisch vor der eignen Tür gekehrt und sich die Frage gestellt, warum es als Antwort auf die Subs­tanzlosigkeit der marxistisch-leninistischen, trotzkistischen und dogmatisch-anarchistischen Wiedererweckungsbewegungen gerade zu einem derart abgehobenen global-antiim­pe­ri­alistischen Furor hatte kommen müssen. Das Phänomen RAF, so Roth, sei diffamatorisch bewältigt worden, »beseitigt wie lästiger Abfall«. Die Sommerloch-›Debatte‹ stand ganz in dieser Tradition einer Müllentsorgung.
Roth verweist auch darauf, dass die Linke »ganz schön lange die Augen vor den Berichten darüber zugemacht (hat), wie vom Staatsschutz in den Knästen mit den RAF-Gefangenen umgesprungen wurde. Seit 1972 ist die BRD/West-Berlin ein Land, in dem durch Isolation gefoltert wird. (...) Wir haben die RAF-Gefangenen 1972-1974/75 ihrem Schicksal überlassen, der aberwitzigen Illusion aufsitzend, dass das, was wir nicht wahrhaben wollen, in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit auch tatsächlich nicht vorkomme.«

In der Sommerloch-›Debatte‹ verwies einzig die Jungle World darauf, dass noch immer Gefangene aus der RAF einsitzen. Und dies, obwohl sich die RAF 1998 auflöste, und die »Leninisten mit Knarre« (Agit 883, Dezember 1971) jegliche Aktionen einstellten. Als sich die nordirischen Konfliktparteien vor fünf Jahren auf das Kar­freitagsabkommen einigten und sich verpflichteten, darauf hinzuarbeiten, dass binnen zwei Jahren alle paramilitärischen Organisationen ihre Waffen abgegeben haben, kamen mehrere hundert Gefangene aus der Irisch-Republikanischen Armee sowie aus loyalistischen Organisationen frei, zu einem Zeitpunkt, da die Waffen längst nicht glaubhaft ruhten oder gar versiegelt waren. Die rot-grüne Regierung hält, von dem Schritt der Regierung Blair völlig unbeeindruckt, nach wie vor Gefangene aus der RAF, statt sie bedingungslos auf freien Fuß zu setzen, wie es, wenn man schon nicht dem nordirischen Beispiel folgen will, internationales Recht nach Beendigung einer bewaffneten Auseinandersetzung vorsieht.
Die Restlinke hat die Botschaft der an den Gefangenen aus der RAF weiter praktizierten Geiselhaft verstanden und schweigt wie anno 1972ff.
Irmgard Möller, ehemals RAF, hat jüngst in einem Interview des Magazins testcard betont, dass eine Auseinandersetzung der einstigen RAF-Kombattanten mit ihrer Politik und ihren Fehlern der Vergangenheit erst stattfinden könne, wenn alle Gefangenen draußen und nicht mehr in einer der modernen Kathedralen der Macht isoliert sind. Insofern war es nur konsequent, dass diese ›Debatte‹ ohne einstige RAFler stattfand. Die prominenten Aktuell-Intellektuellen machen sich die RAF wie eh und je lieber zum Objekt, als einen Diskurs anzuregen, der diesen Namen überhaupt erst verdiente.

Was eine seiner Ansicht nach »zeithistorisch genaue Ausstellung« hätte leisten sollen, formulierte Lorenz Jäger in der FAZ vom 14.09.03. Jäger wollte erfahren, welche Rolle der heutige Innenminister Schily in der Geschichte der siebziger Jahre spielte. Schily, so Jäger, habe in seinen während des Stammheimer Prozesses gestellten Beweisanträgen den Verdacht auf Völkermord erhoben: »Wenn es jemals einen Mythos RAF gab, dann war er im Schriftsatz von Schily formuliert worden: Terror als Widerstand gegen die verbrecherische Politik einer Großmacht.« Die ganze Brutalität des Krieges in Fernost, durch den Vietnam in die Steinzeit zurück gebombt werden sollte, und die heute viele nicht mehr wahr haben wollen, war es, die einige aus ihrer anfänglichen Empörung eine antiimperialistische Praxis jenseits der bloßen Identifikation und jenseits von Lippenbekenntnissen entwickeln ließ. Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg sollte als der eigentliche Skandal vorgeführt werden, nicht die Tatsache, dass er bis heute jeden Monat dut­zende Opfer fordert, sei es durch die Spätfolgen des von den USA eingesetzten Giftes Agent Orange oder durch die Explosion der aus den längst an anderen Kriegsschauplätzen eingesetzten B-52-Bombern abgeworfenen Vernichtungswaf­fen. Es mag längst en vogue sein, dass Alt68er Vietnam als Ziel ihrer Studienreise auserwählen, um endlich einmal wirklich auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad zu wandeln. Die durch Napalm entstellten Opfer des von den USA entfachten Infernos, das wie der Nazismus in Manier eines Jägers weggeschrieben werden soll, werden ihnen bei ihrem Vietnam-Besuch nicht verborgen bleiben.

In die Diskussion griff auch der frühere Präsident des Bundeskriminalamtes Hans-Ludwig Zachert ein und schrieb: »Auch staatliche Stellen müssen – soweit dem nicht zwingende juristische Gründe entgegenstehen – im Interesse einer objektiven und damit jeder Legendenbildung entgegenwirkenden Sachdarstellung ihr einschlägiges Material für die Thematik der Ausstellung zur Verfügung stellen.« (Tagesspiegel, 07.08.03) Worin dieses Material bestehen könnte, erklärte Oliver Tolmein: »Wichtiger als jedes Dokudrama und voraussichtlich eindrucksvoller als jedes Kunstwerk wäre es, für Opfer und Täter, wenn die Archive geöffnet würden und die Öffentlichkeit Einblick in die Materialien bekäme, über die auch das Hamburger Institut für Sozialforschung nicht verfügt – die unzensierten, vollständigen Protokolle des Kleinen Krisenstabs aus dem ›Deutschen Herbst‹.« (konkret, 9/03) Diese Materialien gäben wohl auch Aufschluss darüber, was in Stammheim am 18. Oktober 1977 unter der Ägide des Sozialdemokraten Helmut Schmidt tatsächlich geschah, wer für die »Reise ohne Wiederkehr« (Spiegel, 39/03) verantwortlich war. Herr Zachert möge seine einstigen Kollegen sowie das Kommando der GSG 9 zur Herausgabe der Protokolle des Einsatzes von Bad Kleinen bewegen. Müsste er dann nicht von seiner Behauptung Abstand nehmen, Wolfgang Grams »sei bei einer Aktion auf dem Bahnhof in Bad Kleinen durch eigene Hand zu Tode gekommen«?
Doch zu einer Öffnung der Archive sowie einer Herausgabe von Protokollen wird es angesichts der für 2004 in den Kunstwerken Berlin geplanten Ausstellung nicht kommen. Es gehe um eine »Fallstudie am Beispiel RAF«, um »die Spektakularisierung des Terrors in den Massenmedien«. »Die Kunst müsse im Mittelpunkt stehen«, heißt es in dem überarbeiteten Konzept, das die KW vorlegten, nachdem die Verfasser von 400 Zeitungsartikeln in dem von ihnen selbst produzierten Nebel herumgestochert hatten.

Was Kunst zu leisten vermag, daran hat sich der abgearbeitet, der neben dem Geraune über die RAF das Sommerfeuilleton dominierte: Theodor Wiesengrund Adorno. Gegen diejenigen, die glauben, die Kunst an ein Gängelband legen zu können, ist seine Ästhetische Theorie allemal eine Waffe.

Jürgen Schneider ist Autor und Übersetzer, er lebt in Berlin.



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