telegraph #109
JUGENDLICHE OPFER RECHTER GEWALT
Anlaufstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt e.V.

Was in Potzlow, dem kleinen Dorf in der Ucker­mark, am 12. Juli des vergangenen Jahres geschah, lässt entsetzen. Es ruft ohnmächtige Abscheu hervor. Und Fassungslosigkeit. Wie soll es zu begreifen sein? Drei junge Männer, die ihre rechtsextreme Gesinnung offen zur Schau trugen, fanden in dem 16-jährigen Marinus S. ihr Opfer. Sie kannten ihn, er war kein Fremder. Seine weiten Hosen waren ihnen „undeutsch“. Sie nannten ihn einen „Juden“ und meinten damit, dass er kein Recht habe zu leben. Und dann taten sie ihm Stunden von Qualen an, bis sie ihn totgeschlagen hatten und sein Körper zertrümmert war. Seine Leiche warfen sie in eine Jauchegrube, wo sie vier Monate später gefunden wurde. Wie soll die völlige Enthemmung zu verstehen sein? Drei psychopathische Einzeltäter? Da waren noch andere: Ein Mann und eine Frau, in deren Wohnung die Tortur ihren Anfang nahm, die es beobachtet haben, die nichts taten und schwiegen, und ein Dorf, in dem Täter und Opfer lebten und in dem einige Einwohner von dem Mord wussten und schwiegen. – Auf die vielen Fragen nach der Tat gab es nur wenige Antworten und einen erschreckenden Verdacht - die Erkenntnis: Dass es für die Täter „normal“ war, dass es für sie ein „Spaß“ war. Zeugen berichteten im Gerichtsverfahren, dass Marcel S. die Tat als „geiles Gefühl“ beschrieben habe, und dass es für andere „normal“ war wegzusehen.

Rechte Angriffe
Als dieser Text geschrieben wurde, stand das Verfahren gegen die Täter am Landgericht Neuruppin kurz vor seinem Ende. Die Staatsanwältin nannte die Tat eine „Hinrichtung“ und forderte für zwei der drei Angeklagten die Höchststrafe. Aber abseits der prozessualen Aufarbeitung der Tat bleibt auch die Frage: Was ist „normal“ in Brandenburg? Die Tat, der Mord in Potzlow war in seinem Ausmaß an Brutalität einmalig. Rechtsextrem motivierte Angriffe auf Jugendliche sind es nicht. Eine große öffentliche Aufmerksamkeit erlangen allerdings nur wenige. 140 Opfer rechter Gewalt sind den Beratungsprojekten für Opfer rechter Gewalt im Land Brandenburg, der Opferperspektive im letzten Jahr bekannt geworden. Fast die Hälfte davon waren „nicht-rechte“ Jugendliche, viele nicht mehr als 20 Jahre alt.
Nachdem der Mord an Marinus S. bekannt wurde, gab es Stimmen, die die „seelische Verwahrlosung“ der Täter hervorhoben, die „zerrüttete Familien“ als Ursache benannten und den politischen Hintergrund der Tat in Abrede stellten. Diese Entpolitisierung im öffentlichen Umgang mit rechten Angriffen auf Jugendliche findet sich immer wieder. Manchmal bezieht sie sich auf die Täter, indem der Fokus auf ihren seelischen Zustand gesetzt wird. In anderen Fällen geht es um die Taten selbst, die zum Beispiel zu Auseinandersetzungen zwischen „rivalisierenden Jugendgruppen“ erklärt werden.
Sicher, die Motivation eines Angriffs sollte geklärt werden. Wenn die Opferperspektive von wahrscheinlich rechtsextrem motivierten Angriffen erfährt, versuchten sie auch, die Hintergründe zu recherchieren. Gerade im Bereich der Gewalt gegen Jugendliche, steht man vor dem Problem einer genauen Einordnung der Taten: Sind sie politisch oder in erster Linie kriminell motiviert? Diese Frage muss im Einzelfall differenziert beantwortet werden. Anhaltspunkte können die Umstände der Tat und die Verortung der Täter sein.

Opfer und Täter
Einige der jugendlichen Opfer sind Punks, Skater oder Hip-Hopper, andere engagieren sich politisch. Manche von ihnen lassen sich gar nicht in solche Kategorien einordnen, sie zählen einfach „nur“ nicht zur rechten Szene. Die rechten Täter sind oft in einem ähnlichen Alter.
Wenn sich Täter und Opfer nicht kannten, hatten die Angriffe scheinbar nichtige Anlässe: wieder die Kleidung oder die Frisur oder die Musik, die den Tätern als „nicht deutsch“ galten. Offenbar ist eine Motivation der Täter in ihren extrem nationalistischen und chauvinistischen Einstellungen zu suchen. Die angegriffene Kleidung, Frisur oder Musik kann – bewusst oder unbewusst – etwas symbolisieren, das dagegen steht. Sie wird in jedem Fall von den Tätern so verstanden: als Aussage, nicht rechts zu sein, also nicht zu ihnen zu gehören.
Gerade in kleineren Städten kommt es vor, dass etwa gleichaltrige Täter und Opfer zumin­dest flüchtig bekannt sind. In solchen Fällen bedarf es weniger symbolhafter Anlässe für einen Angriff, es genügt schon die einfache Zuordnung zu einer bestimmten Szene oder Gruppe von Jugendlichen. Darüber hinaus war in den letzten Jahren insbesondere im südlichen Bran­denburg eine deutliche Tendenz zu beobachten, dass Rechtsextreme Treffpunkte alternativer Jugendlicher gezielt angriffen, etwa den Proberaum einer Band in Vetschau.
Festzuhalten ist, dass Angriffe auf Jugendliche, die aufgrund ihrer bunten Haare und weiten Hosen oder weil sie sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus positionieren durchgeführt werden, für Motive sprechen, die einem rechtsextrem orientierten Weltbild entspringen. Es ist die Ideologie der Ungleichheit, die Überhöhung der eigenen Gruppe und das Absprechen des Rechts anderer auf Freiheit und Unversehrtheit, sogar des Rechts zu leben. Im Fall Potzlow wurde darüber hinaus eine antisemitische Motivation der Täter mehr als deutlich.
Was landläufig zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen – mit dem Hintergrund, dass es die schon immer gegeben habe – banalisiert wird, ist sehr wohl eine Auseinandersetzung um Dominanz. Aber es sind nicht „irgendwelche“ Jugendlichen, die dort zuschlagen. Sie ziehen ihre Motivation aus einer rechts­extremen Ideologie, um genau diese durchzusetzen. Es geht ihnen – ob nun als politische Strategie oder Ausdruck gruppendynamischer Prozesse – um die Errichtung „befreiter Zonen“.
Berücksichtigen muss man daneben, dass ungeachtet des Versuchs einer objektiven Betrachtung der Motivation, viele der Opfer die Taten als rechts einstufen, wenn die Täter klar einer rechten Szene zuzuordnen waren. In jedem Fall tragen die Angriffe rechter Täter zu einer allgemeinen Verunsicherung und Ein­schüch­terung bei.

In einer Kleinstadt in Brandenburg
Am Abend des 3. August 2001 wurden in Vetschau, im Süden Brandenburgs, mehrere Jugendliche unweit des Proberaums ihrer Band von Rechten angegriffen und einer von ihnen geschlagen und mit Stiefeln getreten, wobei er sich Kopfverletzungen zuzog. In der darauf folgenden Nacht drangen Rechte in den Proberaum ein und verwüsteten ihn. In der Sil­ves­ternacht 2001 griffen wiederum Rechte eine im Proberaum stattfindende Party an. Die Angreifer versuchten in den Proberaum einzudringen. Sie warfen die Scheiben mit Steinen ein, wobei ein Fenster samt Rahmen durch die Wucht aus der Wand brach. Während die Jugendlichen im Proberaum mit schweren Gegenständen beworfen wurden, schafften sie es dennoch die Tür zu versperren, so dass die Rechten nicht eindringen konnten. Am 19. Mai 2002 warfen vermutlich Rechte mehrere Brandsätze auf den Proberaum. Glücklicherweise wurde niemand verletzt und auch der Sachschaden blieb gering.
Die Cottbuser Anlaufstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt und die Opferperspektive berieten und unterstützten die Jugendlichen. Die BeraterInnen erfuhren von einem Klima der Angst in der Kleinstadt. Die Angriffe auf den Proberaum waren die massivsten; viele Jugendliche berichteten daneben von häufigen und ganz alltäglichen Pöbeleien und Attacken durch Rechte. In der Stadt und ihrem ländlichen Umfeld waren rechte Cliquen sehr präsent und beeinflussten so das Verhalten anderer Jugendlicher. Betroffene erzählten davon, dass sie bestimmte Orte, an denen sie Rechte vermuteten, mieden und dass sie sich lieber mit dem Fahrrad oder dem Auto als zu Fuß in der Stadt bewegten. Andere beschrieben ihre Angst, allein in Vetschau unterwegs zu sein. Alle waren sich einig, dass es für sie gefährlich sei, große öffentliche Veranstaltungen wie das Stadtfest zu besuchen, weil sich dort auch immer viele Rechte treffen.
Die Jugendlichen in Vetschau versuchten, diese Probleme in ihrer Stadt zu thematisieren. Sie organisierten zum Beispiel eine Demonstration. Sie drehten einen Dokumentarfilm, in dem sie über ihre eigene Situation berichten. Dass es aber wenig positiv spürbare Veränderungen in ihrem Alltag gab und dass Unterstützung nur von einzelnen Personen kam, hat ihren Eindruck bestärkt, mit ihren Problemen allein gelassen zu werden. Zu den rechten Angriffen auf den Proberaum kamen Spannungen mit Nachbarn im Umfeld des Treffpunkts und die Unzufriedenheit des Vermieters mit der Situation. Im Mai 2002 mussten die Jugendlichen den Proberaum aufgeben. Der Verlust dieses Treffpunkts war auch ein deutliches Zeichen für ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit.
Die Angriffe in Vetschau gingen weiter. So wurden am 31. August 2002 nach dem Besuch des jährlichen Stadtfestes ein vietnamesischer und ein deutscher Jugendlicher von mehreren Rechten angegriffen. Der Vietnamese wurde auf den Kopf geschlagen, so dass er ohnmächtig zusammenbrach und zur stationären Behandlung ins Krankenhaus musste.

Alltag
In Gesprächen mit betroffenen Jugendlichen ist immer wieder zu hören, dass das alles halt normal sei. Auf Nachfrage berichten viele von ganz alltäglichen Pöbeleien, dass sie von Rechten, denen sie auf der Straße begegnen, beschimpft werden, dass dann Sprüche kommen wie: „Dich kriegen wir auch noch.“ oder dass sie – fast „nebenbei“ – angerempelt werden. Aber all das liegt für viele scheinbar unterhalb einer Schwelle, ab der es (öffentlich) zu berichten wäre.
Wenn in einer Stadt über Jahre eine rechts­ex­trem orientierte Jugendszene uneingeschränkt präsent ist, wird sie zur Normalität. Fast alle (Jugendlichen) kennen ihre kulturellen Codes, alle wissen, wie Rechte aussehen und was sie tun. Manche Jugendliche haben rechte Angriffe erlebt, andere haben davon gehört oder die Folgen gesehen. Wenn sie gleichzeitig die Erfahrung machen, dass diese Entwicklungen von der „Erwachsenenwelt“ nicht ernst genommen werden, dass über Rechtsextremismus eher geschwiegen als gesprochen wird, entsteht ein starkes Gefühl der Ohnmacht. Die Folge ist Resignation, das Einrichten in einer Atmosphäre von reeller Bedrohung und Einschränkungen des Alltags. Ein einzelner rechter Angriff wirkt auf ein Individuum, die Erzählung darüber kann dann auf eine ganze Gruppe wirken. Es bildet sich ein kollektives Wissen darüber, welche Orte zu welchen Zeiten man meiden sollte. Insgesamt wird der Umgang mit rechter Gewalt von Passivität geprägt.
Angriffe werden aufgrund dieses generellen Ohnmachtsgefühls unter anderem seltener bei der Polizei angezeigt. Gründe dafür können aber auch negative Erfahrungen mit der Polizei sein, so z.B. dass Jugendliche den Eindruck bekommen, dass sie von Beamten nicht ernst genommen und rechte Angriffe verharmlost werden. Es ist zu vermuten, dass es auch im Bereich rechtsextrem motivierter Angriffe auf Jugendliche eine hohe Dunkelziffer gibt.
Die Passivität eines Teils der jugendlichen Opfer zeigt sich auch in der Beratungsarbeit der Opferperspektive. Auffällig ist, dass gemessen an den Gesamtzahlen der prozentuale Anteil der Jugendlichen, die eine Beratung suchen, deutlich geringer ist als der der jugendlichen Opfer.

Auswege
Bleibt die Frage, ob das so sein muss, ob die einzige Perspektive für nicht-rechte Jugendliche ist, aus Brandenburg wegzugehen.
Es gibt auch andere Erfahrungen als die oben geschilderten. In Spremberg – ebenfalls eine Kleinstadt im südlichen Brandenburg – gelang es einer Gruppe Jugendlicher nach einem rechten Angriff, selbst aktiv zu werden. Sie wollten sich nicht mit dem Geschehen abfinden. Sie begannen Veranstaltungen zur Thematik zu organisieren, sie suchten sich Unterstützung und fanden sie auch in der Kommune und sie setzten sich das Ziel, eigene Räume zu schaffen. Oft war der zweijährige Prozess der Entwicklung dieses Projekts und der Auseinandersetzung um seine Verwirklichung von Absagen und Rückschlägen gezeichnet. Doch es gibt heute in Spremberg ein selbstverwaltetes Jugendzentrum. Damit ist nicht erreicht, dass es in der Stadt keine rechten Angriffe mehr gibt. Aber es wurde ein Ort geschaffen, der eine Ausstrahlung in der Stadt besitzt, der eine – zumindest punktuelle – Sicherheit garantiert und weitere Gestaltungsräume öffnet.
Gerade Jugendliche besitzen in Bezug auf Rechtsextremismus oft einige Kenntnisse der lokalen Situation und Energien, Veränderungen anzugehen. Da wo Jugendliche in Initiativen oder Vereinen aktiv gegen Rechtsextremismus werden, verlassen sie nicht nur die eigene passive Opferrolle. Sie ändern auch ihr Umfeld und zeigen Alternativen auf. Damit daraus nachhaltige Entwicklungen werden, ist es notwendig, dass solche Initiativen von anderen zivilge­sellschaftlichen Akteuren anerkannt und unterstützt werden, dass die Wahrnehmung der Jugendlichen ernst genommen und diskutiert wird.
Für die Opferperspektive sind solche lokalen Jugendinitiativen wichtige Kooperationspartner, weil sie es sind, die oft als erste von rechten Angriffen erfahren und berichten und die Arbeit der Opferperspektive vor Ort unterstützen können.

Kontakt: Anlaufstelle für Opfer rechtsex­tre­mer Gewalt e.V., Parzellenstraße 79, 03046 Cottbus, Tel: (0172) 75 85 772, Fax : (0172) 151 221 837, E-Mail: aforg@gmx.net



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