telegraph #109
Mediales
NEUE BÜCHER

Knobi

Wenn der Journalist Henryk M. Broder seinen Kollegen Mathias Bröckers als „Gesinnungslos„ bezeichnet und ihm wünscht, „dass er [Bröckers] eines Tages in das falsche Flugzeug steigt und als Fettfleck an einer Hoch­hauswand endet“, dann geht es nicht nur um journalistischen Futterneid, sondern darum die ‚rechte’ Gesinnung höher einzuordnen, als den journalistischen Versuch unbeantworteter Fragen nachzuspüren. Der Schlagabtausch zwischen dem Ex-Taz-Kulturredakteur Mathias Bröckers und den zunehmend versagenden Journalisten der großen Medien in den letzten Monaten hat doch sehr skurrile Formen angenommen.
Auch zwei Jahre nach den Ereignissen am 11.9.01 kochen die Emotionen noch hoch, aber letztendlich wissen wir heute nicht mehr als 48 Stunden nach dem Ereignis, und weiterhin sind viele Fragen offen. Daher, selbst wenn nicht in allen Punkten Zustimmung erfolgen kann, ist dieses Buch empfehlenswert: Mathias Bröckers & Andreas Hauß; Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9. Mit 60 Minuten Dokumentarfilm von Daniel Hopsicker: „Die Flugsschulen der Terroristen, die CIA und die Mafia“ auf Video-CD. Verlag Zwei­tausendeins Frankfurt/:M. 2003/ 325 Seiten/ 14,90 Euro. Es will sich nicht an Ver­schwö­rungstheorien beteiligen, oder sonst wie Spekulationen verbreiten, aber wem wirklich daran liegen würde, den Opfern zu helfen, und sich um Aufklärung bemühen würde, kommt nicht umhin die offenen Fragen zu benennen.

Ein zentrales Thema beim 11.9. ist und bleibt, die Frage nach Macht und/oder Moral. Eben diesem Thema hat sich der in Deutschland lebende spanische Vielschreiber Heleno Saña gestellt. In einem durchaus klugen Buch über die Geschichte des Abendlandes und dessen Arroganz gegenüber dem Rest der Welt wird hier Gericht gehalten. Selbst wenn das Bildungsbürgertum in Form von allzu kurz ein­gesprengselten Zitätchen aus der abendländischen Geistesgeschichte, samt den obligatorischen lateinischen Floskeln (waren wir nicht alle auf dem humanistischen Gymnasium?) etwas borniert daher kommt, so ändert es aber nichts an seiner Argumentation, dass die selbst­ernannte Weltelite (vornehmlich Amerika und Europa) der Menschheit Abbitte zu leisten habe, für die Verbrechen der letzten 2000 Jahre. Dies Buch sollte getrost Pflichtlektüre – nicht nur am humanistischen Gymnasium – werden: Heleno Saña; Macht ohne Moral. Die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen. PapyRossa Verlag Köln 2003/ 261 S./ 15,90 Euro.

Laßt uns doch mal ein Vorurteil pflegen: Dem Spanier Heleno Saña war die Geschichte der im Spanischen Bürgerkrieg kämpfenden Frauen nicht interessant genug (In seinem Buch „Die libertäre Revolution“ aus der Edition Nautilus Hamburg 2001 hielt er es nicht für Relevant auf die Mujeres Libres hinzuweisen). Gut, aber selbst wir, ohne humanistisches Gymnasium wissen, dass dieser kleine Chauvinismus keine Sache irgendeines Landes ist, sondern durch­aus eine abendländische Krankheit, die weltweit verbreitet ist. Dafür gibt es, den Frauen sei Dank, zum Glück aber Bücher, denen genau dieses Thema wichtig erscheint, und die ihm auch den gebührenden Platz einräumen: Vera Bianchi; Feministinnen in der Revolution – Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg. Unrast-Verlag Münster 2003/ 159 S./ 14 Euro. Immerhin waren in dieser basisdemokratischen Frauenorganisation über 20.000 kämp­fende Frauen vereinigt, denen wirklich mehr Platz in der Geschichte zusteht, als ihnen bisher eingeräumt worden ist.

Ob die Frauen nun von Beginn an in der zapa­tistischen Bewegung den geschichtlichen und gesellschaftlichen Platz bekommen haben, der ihnen gebührt, kann ich auf Anhieb nicht sagen, aber folgendes Buch sei hier empfohlen: Lutz Kerkeling; La Lucha Sigue! [Der Kampf geht weiter!] EZLN – Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands. Unrast-Verlag Münster 2003/ 300 S./ 16 Euro. Das Ganze sieht ein wenig nach Diplomarbeit aus, muss aber deshalb ja nicht schlecht sein. Von den Hintergründen der mexikanischen Politik und Gesellschaft, über die Beschreibung des zapa­tistischen Aufstandes bis zur Reflexion in unsere Breitengrade hinein, reicht der weite Themen-Bogen dieses Bandes, und ist sicherlich unerlässlich in der internationalen Debatte um die Alternativen zur kapitalistischen Globa­lisierung.

Pop ist einfach die Abkürzung für Populär und bezeichnet einfach einen Massengeschmack in Kunst, Musik und Politik. Und in genau dieser Mischung will sich die Zeitschrift (im Buchformat) testcard verstehen. Der Themenband über „Linke Mythen“ ist ein sehr interessanter Band, in dem sich linke Politik und Musik begegnen: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte #12: linke mythen (Ventil Verlag Mainz 2003/ 302 S./ 14,50 Euro) Auf ca. 200 Seiten kommen 33 Beiträge zum Thema, und dazu noch der mediale Be­spre­chungsteil mit ca. 200 Tonträgern (S. 207-261) und ca. 70 Büchern (S. 262-302) dazu. Trotz der Vielfalt habe ich den Grundsatz der ameri­kanischen Anarchistin Emma Gold­man vermisst, der da sinngemäß lautete: Eine Revolution auf der ich nicht tanzen kann, ist nicht meine Revolution.

Vom Pop nun zum Black Metal. Mag nicht jede/r. Kann ich verstehen, kommt doch aus dieser Mischung von heftiger Musik und (manchmal) Satanismus, oft genug nichts Gescheites raus – beides ist sehr autoritär. In dem Buch M. Moynihan / D. Søderlind; Lords of Chaos. Satanischer Metal: Der blutige Aufstieg aus dem Untergrund. ProMedia GmbH Zeltingen-Rach­tig 2002/ zahlr. Abb./ 413 S./ 19,95 Euro geht es um die Verquickung norwegischer Black Metal-Musiker mit der Satanisten- und Naziszene, bis hin zu Brandanschlägen auf Kirchen und dem Selbstmord des Sängers „Dead“ von der Gruppe Mayhem. Schön schau­rig, aber auch durchaus beängstigend, und Parallelen zur deutschen Szene sind allemal vorhanden.

Nach den dunklen Seiten der Musik nun zu einer, die nicht weniger dunkel ist, aber vielleicht nicht so terroristisch. Die Selbstzerstörung der Musikerszene in den 70er und 80er Jahren war enorm. Davon handelt das Buch Fito de la Parra; Living the Blues. Canned Haet’s Story zwischen Musik, Drogen, Tod, Sex und Überleben. Little Big Beat Musikverlag Lindewerra 2001/ zahlr. Abb./ 367 S./ 19,90 Euro. Ich war seit frühester Jugend ein Fan dieser genialen Psychedelic-Blues & Boogie-Band. Ob Hits wie „Goin’ Up the Country“ oder dem über 40-minütigen „Refried Boogie Part 1&2“ (1969) bis hin zu ihrem genialen Doppelalbum „Hooker and Heat“ von 1970 mit der Legende John Lee Hooker, handelt es sich hier um die Bandgeschichte einer Gruppe, die nicht nur den Zeitgeist einer aufbruchwütigen Jugend dokumentiert, sondern auch deren Schattenseite, der mehrere Bandmitglieder zum Opfer fielen. Kult!

Sich um die Jugend kümmern, sollte auch heißen, sich darum zu bemühen sie zu verstehen. Dies hat sich das Magazin Journal der Ju­gendkulturen No. 8: Mädchen | Trendsport | Knast. Verlag Thomas Tilsner Bad Tölz 2003/ Abb./ 134 S./ 10 Euro, zur Aufgabe gestellt – und sie machen ihre Sache gut. Es geht nicht darum Jugendliche zu denunzieren oder abschätzig zu verdammen. Das Journal versucht immer mit den Jugendlichen solidarisch zu sein, und eher aufklärerisch den Erwachsenen gegenüber. Nicht nur Leute, die von berufswegen mit Jugendlichen zu tun haben, sondern auch jene, die die fünfunddreißig überschritten haben, und manchmal das Gefühl haben nicht mehr zu verstehen, was in den Köpfen der Kids so abgeht.

Jetzt noch ein bisschen Kunst gegen Ende: Schwer intellektuell, was die ernsthafte Leserschaft allerdings nicht abschrecken sollte. Herausforderungen bringen uns weiter! Es geht um Kunst, die als individuelle, ästhetische Erfahrung die Menschen zu revolutionieren vermag, und somit als Gesellschaftskritik zurückkehrt: Jour fixe initiative berlin (Hrsg.); Kunstwerk und Kritik. Unrast-Verlag Münster 2003/ 263 S./ 16 Euro.
Wie gesagt, nicht einfach zu lesen, aber wer sich für das Thema interessiert findet auch den Zugang zu diesem Buch.

Und nun wirklich zum Schluss noch ein etwas umstrittener Künstler. Er liebte Lenin, Stalin und Hitler, aber am meisten sich selbst. Er war unbestritten eine Art von Genie was seine Malerei betraf, selbst wenn er politisch ein Trottel war. Die Rede ist von dem spanischen Surrealisten Salvador Dali. Mit dem Buch Robert Des­char­nes/ Gilles Néret; Dali – Die Gemälde [1648 Abbildungen]. Verlag Zweitausendeins Frankfurt a.M. 2003/ 780 S./ fast 2,5 Kilo/ 14,95 Euro, legt der Verlag ein Buch in einer Lizens-Ausgabe vor, welches schon zuvor vom Billig-Produzenten „Taschen“ verlegt worden war. Neben den Gemälden (der Verlag spricht in seiner Pressemitteilung sogar von über 1.800 Abb.) gibt es die Biographie von Dali. Und wer es sich nicht kaufen will, der oder die kann es sich ja schenken lassen. In einigen Wochen ist Weihnachten!

So, dass war es mal wieder. Die Frankfurter Buchmesse ist vorbei, und der Trend droht mit weiteren Büchern á la Dieter Bohlen usw., aber zum Glück gibt es immer noch ein aufrichtiges Häuflein von Verlagen, die es schaffen, mehr gute Bücher zu produzieren, als wie mensch selbst lesen kann. Und das ist gut so. Ich wünsche Euch einen schönen Lese-Winter, und bleibt renitent.



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