telegraph #109
REGIERUNG VERHINDERT AUFKLÄRUNG VON DIKTATURVERBRECHEN
Klaus Hart

Die neue brasilianische Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva will derzeit sogar mit juristischen Mitteln die Aufklärung von Verbrechen der 21-jährigen Militärdiktatur(1964-1985) verhindern. Nicht nur bei brasilianischen Menschenrechtlern, sondern auch in Staatschef Lulas Arbeiterpartei selbst hat dies Unmut und heftige Proteste ausgelöst. Viele Angehörige von ermordeten, verschwundenen Diktaturgegnern hatten gehofft, dass nach dem Amtsantritt des als progressiv geltenden Ex-Gewerkschaftsführers Lula endlich die geheimen Archive der Streitkräfte geöffnet würden, um die Verbrechen des Militärregimes aufzuklären, Auskunft über das Schick­sal der Opfer zu erhalten. Besonders optimistisch stimmte, dass die Bundesrichterin Solange Salgado erst im Juni die Regierung in einem Urteil sogar verpflichtete, die Geheiminformationen über den so genannten „schmutzigen Krieg von Araguaia“ offen zu legen. Rund zehntausend Soldaten jagten Anfang der siebziger Jahre ganze 69 junge idealistische Diktaturgegner, die sich fernab der Städte im Hinterland Nord- und Nordostbrasiliens versteckt hielten. Mit dem Urteil der Bundesrichterin Salgado bekamen endlich jene Eltern von Verschwundenen Recht, die immerhin seit 1982 einen entsprechenden Prozess geführt hatten.

„Eine historische Entscheidung der brasilianischen Justiz – und wohlbegründet“, betont die Menschenrechtsexpertin Myrian Alves, „denn unser Land kommt nur voran, wenn wir die Vergangenheit bewältigen. Und Araguaia war die wohl grausamste Aktion in der Geschichte der brasilianischen Streitkräfte. Doch was jetzt passiert, bedeutet einen bedrückenden politischen Rückschritt. Die Berufungsklage der Regierung desillusioniert uns stark, weil ja immerhin Mitglieder dieser Regierung einst als Regimegegner in der Araguaia-Region waren - darunter Josè Ge­nu­ino, Präsident der Arbeiterpartei, damals Studentenführer. Noch vor wenigen Wochen hatte er die Öffnung der Geheimarchive gefordert. Doch Offiziere, die an den Verbrechen von Araguaia beteiligt waren, sind unterdessen in der Militärhie­rarchie aufgestiegen – und das könnte unerwünschten Ärger provozieren. Offenbar sollen schuldige Militärs geschützt werden.“

Die Menschenrechtsexpertin begrüßt be­son­ders, dass Bundesrichterin Solange Salgado den Kreis der Opfer stark erweiterte: „Bisher er­hielten nur die Familien der Guerilleros eine Entschädigung, nicht aber die Angehörigen jener ungezählten Kleinbauern der Region, an denen ebenfalls Gräueltaten begangen wurden. Die Landbevölkerung von Ara­guaia wurde grausam unterdrückt, beraubt, Bauern wurden barbarisch gefoltert, sogar an ihren Hoden aufgehängt – viele starben an den Folgen der Misshandlungen, andere verschwanden spurlos. Und niemand bekam ärztliche Hilfe. Noch heute haben die Leute der Araguaia-Region Angst, werden vom Militär kontrolliert und überwacht, das aufpasst, ob jemand Informationen weitergibt. Da ist noch so vieles, was wir nicht wissen.“

Bewiesen sei aber, dass zahlreiche Re­gime­gegner totgefoltert, geköpft oder über dem Meer lebendig aus Flugzeugen gestoßen wurden. Dass man die Leichen anderer verbrannte.
„Viele der Frauen und Männer von Araguaia lebten wie im Exil – in ihrem eigenen Land – andernfalls wären sie in den Polizeiwachen umgekommen. Unter den Diktaturgegnern befand sich ein Arzt, der deutschstämmige Dr. Raff – ein Mann, der hier Widerstandsgeschichte schrieb - seit mehreren Jahren erforsche ich sein Schicksal. Zu den Verschwundenen zählt auch ein Italiener, dessen Familie in Italien seit langem um Informationen über seinen Verbleib ersucht.“

Miryan Alves ist Mitarbeiterin von Luis Green­halgh, Kongressabgeordneter der regierenden Arbeiterpartei – kämpft mit ihm seit Jahrzehnten um die Aufklärung der Diktaturver­brechen – auch Greenhalgh protestiert scharf gegen die offizielle Begründung der Regierung, dass man weder alte Wunden aufreißen noch politischen Streit entfachen wolle, deshalb die Öffnung der Geheimarchive ablehne.

„Einfach lächerlich zu sagen“, so Miryan Alves, „die Streitkräfte seien doch heute so wichtig für die Verteidigung des Landes, beteiligten sich sogar an der Bekämpfung des Hungers – was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“

Eine der angesehensten brasilianischen Men­schenrechtsorganisationen, „Tortura nunca mais“ (Nie mehr Folter), wirft der Lula-Regierung in einer Erklärung sogar vor, keinerlei politischen Willen zu besitzen, die in Araguaia begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuklären. Die Macht der Militärs in der nationalen Politik sei besorgniserregend.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph