telegraph #109
LULAS POLITISCHE GEFANGENE UND KUBA – ZWEIERLEI MAß
Klaus Hart

Sondereinheiten der Militärpolizei preschen in Jeeps vor die Zentrale der Landlosenbe­we­gung MST in der Megametropole Sao Paulo, Beamte mit Maschinenpistolen stürmen das kleine einstöckige Gebäude, suchen nach Führern der Organisation. Bilder wie aus der Dik­taturzeit – doch von Anfang September 2003. Neunzehn MST-Aktivisten sind bereits als politische Gefangene eingesperrt, jetzt wurden Haftbefehle gegen weitere elf erlassen – alle in Abwesenheit „wegen Bandenbildung“ von einem Richter des sozialdemokratisch regierten Teilstaates Sao Paulo zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.
Dort tagte im Oktober die Sozialistische Internationale, und es reiste, auch eine deutsche SPD-Delegation trotz der gravierenden Men­schenrechtslage an.

Am MST-Hauptsitz werden die Sondereinheiten jedoch nicht fündig – alle Gesuchten konnten offenbar rechtzeitig untertauchen. Aber im Hinterland des Teilstaates, in dem über tausend deutsche Firmen ansässig sind, überwältigt die Militärpolizei ganz in der Nähe von Landlosencamps Diolinda Alves de Souza, 33, entreißen sie mit Gewalt ihren beiden weinenden kleinen Kindern. Diolinda hat auch den Beinamen „Guerreira“ – weil sie Großgrundbesitzern und deren bewaffneten Milizen stets be­sonders kühn Paroli bot, immer wieder Landbesetzungen, Protestdemos anführte. Wurde sie eingesperrt, setzte sich stets auch Amnesty International für ihre Freilassung ein.

Während die Staatsbeamten Diolinda abführen, ins Gefängnis abtransportieren, die Hatz auf andere MST-Führer fortsetzen, zieht im fernen Brasilia zur selben Stunde Staatschef Lula wieder einen seiner alltäglichen PR-Gags ab, holt eine populäre Rockband in den Präsi­den­tenpalast, hängt sich eine Gitarre um, setzt die Bandmütze auf, mimt den Rocker, lacht sich tot dabei, nächstentags alles groß in Farbe in den Zeitungen.
Unter seiner Mitte-Rechts-Regierung häufen sich im größten lateinamerikanischen Land gravierende Menschenrechtsverletzungen, werden fast täglich Indianer, Bürgerrechtler und Kleinbauern ermordet, wüten Todesschwa­drone, gehört selbst Folter weiterhin zum Alltag. Doch offizielle Proteste des Auslands, gar Sanktionen wie im Falle Kubas, bleiben natürlich wie üblich aus.

Sänger der Landlosenbewegung ebenfalls politischer Gefangener
Würde auf der Zuckerinsel einem Salsa-Musiker ein Haar gekrümmt, hätte Deutschlands Journaille auf Anweisung von oben schon längst das übliche Geschrei angestimmt, würden Proteste bis ins letzte Provinzmedium durchgeschaltet. Doch für Felinto Procopio, genannt Mineirinho, den großen Sänger und Komponisten der brasilianischen Landlosenbewegung, eine Art kulturelle Symbolfigur der Organisation, legt sich in Deutschland bislang keiner ins Zeug. Dabei ist Mineirinho, 34, immerhin schon seit Anfang Juli 2003 am Auftreten gehindert, sozusagen mundtot gemacht, befindet sich mit dem Landlosenführer Jose Rainha, Mann von Diolinda Alves de Souza, im Hochsicherheitsgefängnis des Teilstaates Sao Paulo, zusammengesperrt mit Schwerkri­mi­nel­len, darunter Bossen des organisierten Verbrechens. Wie der MST-Menschenrechtsanwalt Mariano Gomes betont, sei vom sozialdemokratischen Gouverneur Alckmin und seinen Staatssekretären vereinbart worden, Mineirinho und Alves ausgerechnet in ein Hochsi­cher­heitsgefängnis zu stecken – „um die Bewegung zu kriminalisieren. Jener Richter, der unsere Leute aburteilt, hat die Regierung des Teilstaats hinter sich.“ Mineirinho bekam wegen „Banden­bildung“, Jose Rainha wegen illegalen Waffenbesitzes jeweils zwei Jahre und acht Monate Haft – angeblich war in einem Auto, in dem Rainha mitfuhr, von der Militärpolizei ein Gewehr mit abgesägtem Lauf gefunden worden. Der MST-Führer bestreitet, dass ihm eine solche Waffe gehört – der Vorwurf sei frei erfunden.

„Die beiden sind eindeutig politische Gefangene, wurden unter einem Vorwand eingesperrt“, so Menschenrechtsanwalt Gomes, „dass es unter der Regierung von Staatschef Lula politische Gefangene gibt, ist ein Absur­dum. Mineirinho und Rainha hat man absichtlich in dieses Hochsicherheitsgefängnis gesteckt, um aller Welt zu demonstrieren, dass sie für die Gesellschaft hochgefährlich sind. Doch davon kann keine Rede sein – die beiden sind keine Kriminellen, streiten für ein besseres Leben der Brasilianer. Dass sie jetzt hinter Gittern sind, soll auf jeden Bürger abschreckend wirken, der gegen die Zustände aufbegehrt - pass gut auf, sonst geht es dir genauso. Mineirinho spielt auf unseren Kundgebungen, organisiert Festivals, unsere ganze Kulturarbeit. Der hat mir und vielen Landlosen Gitarrespielen beigebracht!“
MST-Führer Jose Rainha war zuvor bereits viermal im Gefängnis – kam stets nach Protesten frei. Grotesk, dass derzeit der MST sogar den Staatssekretär für Menschenrechte, Nilmario Miranda, auf seiner Seite hat – auch er protestiert gegen die Gefängnishaft – gegen eine beabsichtigte Kriminalisierung der Landlosenbewegung. „Banditen sind die Großgrundbesitzer“, sagte er wörtlich – „doch die werden nicht eingesperrt.“

Lula schweigt zu politischen Gefangenen - alle in Lebensgefahr
Aber wäre es für Staatschef Lula nicht ein leichtes, wie viele in Brasilien meinen, Mineirinho und Rainha, die vielen anderen freizube­kom­men, und sei es per Präsidentendekret?
„Die Möglichkeit einer solchen Intervention existiert leider nicht“, so MST-Anwalt Gomes, Brasiliens noch sehr rückschrittliche, konservative Justiz ist formell unabhängig“. Und die Regierung wolle die Großgrundbesitzerkaste nicht frontal angreifen. „Würde Staatschef Lula eine echte Agrarreform in die Wege leiten, ungenutzte Flächen an die Landlosen verteilen, hätten wir auch keine politischen Gefangenen mehr. Doch in der Regierung gibt es eben auch rechtsgerichtete Politiker, wird heftig um die Macht gestritten. Die Rechten werden versuchen, die Regierung zu übernehmen, falls die Gesellschaft sie nicht daran hindert. Den MST zu kriminalisieren, gehört zur Strategie dieser Rechten.“ Im Teilstaate Sao Paulo spielt auch Gouverneur Alckmin vom „Partido Social­de­mocratio Brasileiro“(PSDB) deren Handlanger.
Und Staatschef Lulas Vize beispielsweise, der Milliardär und Großunternehmer Jose Alencar, gehört zur rechtsgerichteten Liberalen Partei PL, die von einer fundamentalistischen Sektenkirche dominiert wird.
Beide politischen Gefangenen erhalten immer wieder Besuch von Politikern aus Lulas Arbeiterpartei PT – Sänger Mineirinho bekam sogar von Kulturminister Gilberto Gil einen Solidaritätsbrief. Und Jose Rainha wird von keinem geringeren als dem Anwalt und angesehenen Menschenrechtsexperten Luis Greenhalg, Kongressabgeordneter der Arbeiterpartei, vertreten. Dennoch ist die Landlosenbewegung in großer Sorge.
„Wir haben größte Angst um das Leben der beiden“, so Gomes. „Zuerst hat man sie in eine fensterlose Strafzelle, ein regelrechtes Verlies gesperrt, hat ihnen die Haare abgeschoren – jetzt sind sie sechs verschiedenen Kriminellenfraktionen ausgesetzt. Wenn von denen jemand beschließt, unsere Leute zu ermorden, wird er berühmt, erwirbt er sich Respekt bei den anderen Gefangenen – so geht es nun einmal zu in den brasilianischen Haftanstalten. Und deshalb sind die beiden politischen Häftlinge in größter Lebensgefahr.“

Zudem haben Amnesty International und brasilianische Menschenrechtsorganisationen in den letzten Tagen dagegen protestiert, dass auch unter Staatschef Lula in den total überfüllten Haftanstalten Gefangene weiterhin gefoltert – und sogar totgefoltert werden, wie neueste Fälle zeigen.

Kirche kritisiert Regierung: „Unter Lula mehr Verfolgung der Landlosenbewegung“
Auch für die befreiungstheologisch orientierte Bodenpastoral CPT der katholischen Kirche, ihren Präsidenten, den Bischof Tomas Balduino, ist das alles nicht hinnehmbar. „Seit Lula an der Regierung ist, hat die Verfolgung des MST sogar noch zugenommen. Schwer zu übersehen, dass die Justiz Positionen der Geldelite vertritt, MST-Aktivisten als Banditen, Störenfriede einstuft. Die Großgrundbesitzerkaste macht Druck auf die Regierung, damit sie den MST niederhält. Lula scheut den Konflikt mit dem Justizapparat, tut leider wenig für eine echte Agrarreform. Nicht nur für CPT und MST ein Absurdum, dass Brasilien zwar massenhaft Nahrungsmittel, darunter Fleisch, Früchte und Soja in die EU und auch nach Deutschland exportiert – gleichzeitig in der immerhin 13. Wirt­schaftsnation der Erde aber etwa vierzig Millionen Brasilianer kaum etwas zu essen haben, sogar Hunger leiden. Brasilien ist derzeit der größte Fleischexporteur der Welt. Neoliberale Verhältnisse pur.

Mehr als zehn Landlosenführer, insgesamt fast fünfzig MST-Mitglieder wurden seit Präsident Lulas Amtsantritt ermordet – von Milizen der Großgrundbesitzer oder von Killerko­m­mandos. Nicht zufällig schickt die UNO in den nächsten Tagen einen Sonderberichterstatter nach Brasilien, der die Aktionen von Todesschwadronen untersuchen soll, die in immerhin fünfzehn Teilstaaten aktiv sind.

Washington: Lula soll Fidel Castro wegen Menschenrechten kritisieren
Grotesk, dass die US-Regierung vor diesem Hintergrund ausgerechnet Lula auffordert, während seiner offiziellen Kuba-Visite Ende September sich für demokratische Werte, politische Freiheit und die Menschenrechte einzusetzen. Geradezu wie ein schlechter Witz klingt, was Bushs Staatssekretär Roger Noriega äußerte: „Wir erwarten, dass Präsident Lula auf Kuba seine immense Glaubwürdigkeit in Fragen der Demokratie, der Arbeitsrechte, der Würde des Menschen und der Freiheit vertritt. All dies Fidel Castro entgegensetzt, der sein Leben damit verbrachte, solche Werte zu zerstören.“
Wie war das gleich – hegt Fidel Castro auch Bewunderung für Adolf Hitler – wie Lula, gibt’s auf Kuba noch Sklaverei und massenhaft Kinderarbeit wie in Brasilien, sterben auf der Insel Menschen an den Folgen von Hunger, gibt’s dort riesige Slums, in denen Millionen von Bewohnern durch schwerbewaffnete Milizen des organisierten Verbrechens terrorisiert werden? Und wo werden täglich Menschen lebendig verbrannt, geköpft, in Stücke gehackt – von der Regierung toleriert? In dem von Lula regierten Brasilien, nicht in Fidel Castros Kuba.

Neoliberale Logik von Rot-Grün
Deshalb ist nach neoliberaler Logik, natürlich auch jener von Rot-Grün, natürlich Castro der große Übeltäter, während in Brasilien ja demokratische Verhältnisse herrschen. Deshalb sagte jetzt Joseph Fischers Auswärtiges Amt die Teilnahme an Kubas Buchmesse ab, stoppte die Verhandlungen über ein Kulturabkommen und ein Goethe-Institut, große kulturelle Rah­menveranstaltungen. Brasilien, mit jährlich weit über vierzigtausend Gewalt-Toten, hat solches nicht zu befürchten, da gibt es Goethe-Institute natürlich längst. Unter Lulla-Vorgänger Fer­nando Henrique Cardoso häuften sich Massaker an Indianern, Landlosen, Straßenkindern – nie ein Grund für Rot-Grün, deshalb gar Kulturabkommen auf Eis zu legen, Messebetei­li­gungen abzusagen. Wie sich’s gehört, wurde Cardoso vielmehr stets hochgeehrt, wegen seiner Politik hochgelobt, ist natürlich auch Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Cardoso ist zu verdanken, dass nach acht Regierungsjahren im­mer noch nur fünfundzwanzig Prozent der Brasilianer tatsächlich lesen und schreiben können, der Rest umso leichter manipulierbar ist, ganz nach dem Gusto der Eliten.

Und sollte Sozialdemokrat Lula, dessen Partei beste Beziehungen zur SPD pflegt, in Havanna tatsächlich hübsch brav nach Washingtoner Vorschrift Fidel Castro und seinen Companheiros die Leviten lesen wollen, hätten die Kubaner allen Grund, ihren Staatsgast heftig auszulachen: Das vielgeschmähte Kuba stieg unter Castro auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung in jene Gruppe von Ländern mit hohem Entwicklungsgrad auf, zu der auch die USA, Frankreich, die Schweiz und Deutschland gehören, liegt auf Platz 52. Brasilien, immerhin dreizehnte Wirtschaftsnation, zählt dagegen nur zur Gruppe jener Länder mit mittlerem Entwicklungsgrad, rangiert auf Platz 65, noch hinter Kolumbien. Sogar dort ist die Lage besser als bei Lula.

Klaus Hart ist Journalist und Autor, er lebt in Brasilien.



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